Politik & Welt

Wie Europa seine ärmsten Bürgerinnen und Bürger im Stich lässt

In manchen Ländern Osteuropas sind die Lebensverhältnisse der ärmeren Bevölkerung so miserabel, dass viele ihr Glück in Deutschland suchen. Dabei haben sie auch hier kaum Chancen und nicht mal Anspruch auf Hartz IV. Auch für die Kommunen ist das eine große Herausforderung.

Auf der Suche nach Chancen. | Foto: Rui Camilo
Auf der Suche nach Chancen. | Foto: Rui Camilo

Vor der rumänischen Staatskrise führte Daniel Rosu ein recht sorgenfreies Leben. Als ausgebildeter Bauarbeiter ging er in Pitești, einer Stadt etwa 120 Kilometer westlich von Bukarest, einer geregelten Beschäftigung nach und vermisste nichts. Aber als 2012 die rumänische Wirtschaft zusammenbrach, verlor er nach 25 Jahren seinen Job. Bald auch die Wohnung.

Sein Geld auf einer Baustelle in Frankfurt zu verdienen, schien ihm die Rettung. Doch die erste Firma zahlte Daniel Rosu keinen Cent, die zweite händigte ihm nach drei Monaten statt der versprochenen 4.000 nur 800 Euro aus und verwies ihn aus der Containerunterkunft.

Der damals 45-Jährige saß auf der Straße. Nach Rumänien wollte er aber nicht zurück, dort sah er für sich gar keine Möglichkeiten. In Frankfurt konnte er sich wenigstens auf dem so genannten „Arbeitsstrich“ als Tagelöhner verdingen. Außerdem hatte er eine Gartenhütte gefunden, deren Besitzer ihn dort übernachten ließ.

Ähnlich wie Daniel Rosu ergeht es etlichen Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union, die wegen der desolaten Situation in ihren Heimatländern ihr Glück auf dem deutschen Arbeitsmarkt versuchen. Aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit haben sie das Recht, sich hier niederzulassen und eine Beschäftigung aufzunehmen. Den allermeisten gelingt das auch: Knapp 70 Prozent der Arbeitsmigrant:innen aus Rumänien und Bulgarien haben einer aktuellen Studie zufolge eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Neun Prozent bekommen Sozial- oder Arbeitslosenhilfe. Aber die restlichen gut zwanzig Prozent, die haben Pech gehabt. Wenn sie über den Tisch gezogen werden oder keine Arbeit finden, fallen sie durchs soziale Netz. Alles, was ihnen bleibt, sind Hilfseinrichtungen wie das Diakoniezentrum Weser 5 im Frankfurter Bahnhofsviertel.

„Die haben mir richtig viel geholfen“, sagt Daniel Rosu, der im dortigen Tagestreff seit Jahren zu den Stammgästen gehört. Mit Hilfe meint er nicht nur die Duschgelegenheit, die Kleiderkammer, das warme Essen und die sozialen Kontakte, die er dort findet. Als er sich voriges Jahr bei einem Sturz den Rücken ruinierte und gesundheitlich schwer angeschlagen war, vermittelten ihm die Sozialarbeiter einen Platz im Henriette-Fürth-Haus der Caritas.

In dieser Gemeinschaftsunterkunft wohnt der inzwischen 53-Jährige bis heute und hofft, noch etwas bleiben zu können. Denn den Knochenjob auf Baustellen kann er nicht mehr stemmen. „Meine Arbeit ist jetzt Flaschen sammeln und Betteln“, schätzt er seine Chancen realistisch ein.

„Die Leute stehen zwischen allen Fronten“, sagt Qutaiba Al Jendi. „Ohne Wohnung bekommen sie keinen regulären Job, ohne Arbeit und gesichertes Einkommen keine Wohnung.“ Der Sozialhelfer ist im Weser 5 Tagestreff und in der Straßensozialarbeit der Diakonie tätig. Weil er fließend Rumänisch spricht, kümmert er sich insbesondere um Menschen, die aus Rumänien und Bulgarien stammen. Tagtäglich ist er mit deren aussichtsloser Lage konfrontiert – und hin und her gerissen. Einerseits könne er schon verstehen, warum die Kommunen diesen Menschen keinen Anspruch auf Sozialleistungen einräumen. Schließlich können sie nicht die ungerechten Wirtschaftsverhältnisse in Europa ausgleichen, Und immerhin, betont Al Jendi, finanziere die Stadt Frankfurt seine Stelle im Diakoniezentrum.

Andererseits hofft der Sozialhelfer aber schon, dass die neue Stadtregierung zumindest in Sachen Unterkünfte mehr tut als bisher geschehen ist. Sozialdezernentin Elke Voitl (Grüne) stieß voriges Jahr bereits eine Kooperation mit dem Förderverein Roma an, um sich der Situation von wohnungslosen Menschen aus Osteuropa anzunehmen.

Beratung bietet auch die „Multinationale Informations- und Anlaufstelle für neu zugewanderte EU-Bürger*innen“, kurz MIA, die von Diakonie und Caritas betrieben wird. Das MIA-Team kann in zehn Sprachen Information, Beratung sowie Unterstützung bei der Alltagsbewältigung anbieten, hilft bei Behördengängen und in humanitären Notlagen. Nach Auskunft von Mitarbeiterin Vesela Zahrieva betreut das MIA derzeit rund tausend Menschen, von denen etwa ein Viertel auf der Straße lebt.

Karin Kühn ist im Diakonischen Werk für Frankfurt und Offenbach als Arbeitsbereichsleiterin zuständig für die Wohnungslosenhilfe. Die Diakonie sei im Gespräch mit der Stadt und den anderen Trägern der Wohnungsnotfallhilfe, damit weitere Hilfsangebote auf kommunaler Ebene geschaffen werden können. Gelöst werden kann das Problem aber nach Ansicht von Kühn nur auf Bundes- und EU-Ebene. Tatsächlich beschäftige sich auf europäischer Ebene bereits die FEANSTA damit, eine Föderation nationaler Organisationen, die zum Thema Wohnungslosigkeit arbeiten. Sie hat beratenden Status beim Europarat und den Vereinten Nationen.

Dennoch werden die betroffenen Menschen in Frankfurt wohl noch geraume Zeit auf eine Besserung ihrer Situation warten müssen. Auch Cristina Cristescu. Als sie vor sechs Jahren gemeinsam mit ihrem Freund Rumänien den Rücken kehrte, war ihr durchaus klar, dass sie in Deutschland kein Recht auf Sozialhilfe haben würde. Aber zuhause hatte sie gar keine Chancen. Die Hoffnung, in Deutschland einen Job zu finden, war stärker als die Bedenken. Schließlich spricht sie etwas Englisch, hat eine abgeschlossene Ausbildung als Elektronikerin sowie Berufserfahrung in der Gastronomie und im Sicherheitsdienst.

In Frankfurt klapperte Cristescu unzählige Geschäfte und Kneipen ab – ohne Erfolg. Ihr Freund machte auf Baustellen ebenfalls schlechte Erfahrungen. Seit sechs Jahren hält sich das Paar mit Flaschensammeln und Betteln über Wasser. Lange schliefen sie unter einer Brücke, inzwischen sind auch sie in einer Gartenhütte untergekommen: Ein Landsmann, der eine Anstellung und Wohnung gefunden hatte, überließ ihnen die, die er bis dahin genutzt hatte. Die Bleibe ist zwar zugig und im Winter eiskalt, aber immer noch besser als die Straße.

Ihre Zuversicht hat die 46-Jährige trotz allem nicht verloren. „Ich fühle mich in Frankfurt wohl, die Stadt ist für mich schon ein Stück Heimat geworden.“ Auch sie ist froh, dass es das Diakoniezentrum Weser 5 gibt. Auch wenn die Sozialarbeiter bei ihrem derzeit drängendsten Problem nicht helfen können: Ihr Pass ist abgelaufen. Hätte Cristescu einen festen Wohnsitz mit Meldebescheinigung, würde das rumänische Konsulat in Bonn ihn verlängern. So aber müsste sie nach Bukarest fahren, wofür ihr das Geld fehlt. Deshalb bleibt ihr nur die Hoffnung, irgendwann doch eine Wohnung zu finden.


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Doris Stickler 77 Artikel

Doris Stickler ist freie Journalistin in Frankfurt.

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