Weiterleben. Beim Kirchenasyl zählt der einzelne Mensch
Petros Habte ist Fachinformatiker für Systemintegration und arbeitet bei der DB Systel, einer Tochter der Deutschen Bahn. Vor kurzem hat der 29-Jährige nebenberuflich noch ein Online-Studium „Digital Business Management“ angefangen. Er lebt zur Miete in Oberrad und ist seit 2023 deutscher Staatsbürger.
Das klingt erstmal nicht ungewöhnlich, ist aber eine unglaubliche Integrationsleistung. Denn Petros Habte musste mit 17 Jahren aus Eritrea fliehen. Damals erhielt er den Einberufungsbefehl zum Militärdienst. Sein Vater hatte sich als Offizier der eritreischen Armee für eine demokratische Verfassung eingesetzt und war ermordet worden. Als Sohn hätte Petros den Militärdienst ziemlich sicher nicht überlebt.
Also floh er über den Sudan aus dem Land und wurde vom Amsterdamer Flughafen aus nach Ungarn abgeschoben. Dort lebte er acht Monate unter harten Bedingungen in einem Flüchtlingslager und später auf der Straße. Als Rechtsextremisten ihn brutal zusammenschlugen, rührte die ungarische Polizei keinen Finger. Mit einem Freund gelang Habte 2014 die Flucht nach Deutschland.
Als Olaf Lewerenz, damals Pfarrer in der Frankfurter Kirchengemeinde Am Bügel, erfuhr, dass eine Abschiebung des jungen Mannes zurück nach Ungarn bevorstand, entschied er in Absprache mit der Gemeinde, ihn ins Kirchenasyl aufzunehmen. Es war das erste Kirchenasyl in Hessen seit langer Zeit. Am 10. April 2014 zog Habte in ein kleines Zimmer im Gemeindehaus ein. „Das war eine der besten Nachrichten meines Lebens“, sagt er heute. „Wie ein Geschenk von Gott.“
Das Kirchenasyl bewahrte den Teenager nicht nur vor der Abschiebung. Er konnte im Gemeindehaus auch an Deutschkursen teilnehmen und nachmittags mit Helfer:innen weiter üben. Seine Augen leuchten noch heute, wenn er von den Frauen in der Kleiderkammer erzählt, wo er mitarbeitete. Er erinnert sich an seinen Lesehunger, an Tischtennis und Basketball mit Jugendlichen aus dem Jugendhaus nebenan. „Es war gut, dass ich gar nicht so viel Zeit hatte, mir Sorgen zu machen.“ Am 28. August 2014 kam von der Ausländerbehörde die Duldung: Nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland wurde er nicht mehr nach Ungarn zurückgeschickt, sondern bekam ein Asylverfahren hier.
Insgesamt blieb Petros Habte drei Jahre im Gemeindehaus wohnen, nach dem Kirchenasyl als Mieter. Pfarrer Lewerenz sorgte dafür, dass er die Mittlere Reife machte. „Petros ist sehr sprachbegabt und wollte unbedingt lernen“, erzählt er. Rückblickend sagt Habte: „Olaf Lewerenz hat sich einfach für mich interessiert. Das werde ich nie vergessen.“ Immer wenn Lewerenz, inzwischen Stadtkirchenpfarrer an der Katharinenkirche, predigt, versucht er, in den Gottesdienst zu gehen.
Asyl zu erhalten, gilt als ältestes Menschenrecht überhaupt. Es hat seine religiösen Wurzeln im antiken Tempelasyl. Die Aufforderung, Fremde aufzunehmen und gut zu behandeln, durchzieht die gesamte Bibel. „Wir handeln aus unserem christlichen Glauben heraus“, betont Pfarrerin Anja Harzke, die sich mit dem Verein MaQuom für Kirchenasyl engagiert.
Einer Absprache zwischen Kirchen und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahr 2015 gemäß wird bei jedem Kirchenasyl ein Dossier zusammengestellt, anhand dessen das BAMF prüfen kann, ob ein Härtefall vorliegt. Laut Pia Gaffron, Ansprechpartnerin für Kirchenasyl bei der Diakonie Hessen, werden diese Dossiers jedoch kaum noch gelesen. Entscheidend ist deshalb der Faktor Zeit: Nach sechs Monaten läuft die Frist ab, innerhalb derer Asylsuchende laut „Dublin III“-Verordnung in das Erstaufnahmeland der EU abgeschoben werden. Danach ist Deutschland für das Asylverfahren zuständig.
Andreas Lipsch, interkultureller Beauftragter der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, nennt das Kirchenasyl „diakonisches Dazwischengehen“. Die Härtefall-Dossiers dokumentieren, welcher Gewalt Geflüchtete auch in Europa ausgesetzt sind. In osteuropäischen Ländern werden sie nicht selten entkleidet und ihrer Wertgegenstände beraubt. Männer und Frauen werden zusammen untergebracht oder sogar in der Wildnis ausgesetzt. In Südeuropa laufen Geflüchtete Gefahr, Opfer von Menschenhandel zu werden, oder sie müssen auf der Straße leben. Für Frauen bedeutet das meistens Prostitution.
Ein solches Schicksal blieb der 27-jährigen Timnit Ghide Maile erspart. Sie ist ebenfalls vor dem Militärdienst in Eritrea geflohen, den dort auch Frauen antreten müssen. 2018 kam sie bei ihrem Bruder in Italien unter, wo es aber für Geflüchtete keinerlei Unterstützung gibt. Weil die junge Frau keine Perspektive hatte, reiste sie weiter nach Deutschland.
In der Erstaufnahme-Einrichtung in Gießen kam sie über einen eritreischen Priester in Kontakt mit dem Evangelischen Beratungszentrum Haus am Weißen Stein in Frankfurt-Eschersheim, das ihr ein Kirchenasyl bei der Gemeinde Bornheim vermittelte. „In dieser Zeit war ich nie alleine“, erzählt Ghide Maile. „Ein Team von zehn Frauen hat mir abwechselnd Deutsch beigebracht, mit mir gekocht und mir vieles erklärt. Ich weiß nicht, wie ich mich sonst zurechtgefunden hätte.“
Pfarrer Matthias Weber half mit Anwälten für die rechtlichen Fragen. Und dann geschah etwas Wundervolles. Zum Unterstützerteam der Gemeinde gehörte auch Samuel aus Eritrea, Timnit und er verliebten sich ineinander. 2020 heirateten sie in der eritreischen christlich-orthodoxen Gemeinde in Höchst, in die sie immer noch jeden Sonntag gehen. Matthias Weber erlebte ihre Trauung dort mit. Inzwischen hat das Paar einen Sohn und eine Tochter.
Timnit Ghide Mailes Schulabschluss aus Eritrea gilt hier als Hauptschulabschluss, jetzt macht sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Mit dieser Qualifikatiton kann sie dann Krankenpflegerin lernen, ihr eigentlicher Berufswunsch. „Wenn ich manchmal müde von meinem Tag bin, denke ich an meine Mutter“, sagt sie. „Sie hat sechs Kinder fast alleine großgezogen – mein Vater war beim Militär und kaum zuhause. Mein Mann dagegen unterstützt mich sehr.“ Sie strahlt.
Glück hat auch Husnia, die Tochter von Mohammad Mehdi Gohari. Sie macht zurzeit ihren Hauptschulabschluss. „Wegen meiner Tochter und meiner Frau bin ich 2009 aus Afghanistan geflohen“, erzählt ihr Vater. „Schon damals gewannen die Taliban immer mehr Einfluss. Sie halten Frauen wie Haustiere, und die Töchter werden teilweise schon mit zwölf Jahren verheiratet.“
Nicht nur Goharis Tochter, auch seine beiden Söhne gehen jetzt in Deutschland zur Schule. Als gelernter Schneider hat er sich vor kurzem selbstständig gemacht und betreibt die Damenschneiderei „Husnia-Fashion“ im Frankfurter Stadtzentrum – der Name ist eine Reminiszenz an die Tochter. Die Wandfarbe glitzert ein wenig, und die bunten Kleider wirken orientalisch.
Für das Startkapital hat ihm die Frankfurter Miriamgemeinde einen Kredit gegeben. Dort waren er und seine Familie 2014 drei Monate im Kirchenasyl. Nach einer langen Flucht über mehrere Länder sollten sie aus den Niederlanden, wo sie schon fünf Jahre gelebt hatten, nach Afghanistan abgeschoben werden. Das haben Pfarrer Thomas Volz und die Miriamgemeinde verhindert.
Heute leben die Goharis in einer Wohnung im ersten Stock des Gemeindehauses und helfen selbst bei der Unterstützung von Geflüchteten mit, die hier Kirchenasyl bekommen. „Mensch ist Mensch“, sagt Gohari. „Ob Muslim, Christ, Jude, Buddhist und welcher Hautfarbe auch immer.“
16 Kirchenasyle mit insgesamt 19 Personen, Kinder eingeschlossen, gab es 2023 in Frankfurt. Bei der Diakonie Hessen ist die Zahl der Anfragen zehn Mal so hoch wie die der möglichen Kirchenasyle. Viele Geflüchtete bekommen also nie eine Chance, ihren Fall in Deutschland ernsthaft prüfen zu lassen.
„Wir können nur die Spitze der Spitze des Eisbergs abtragen“, bedauert Pfarrerin Anja Harzke. Aber Petros Habte, Timnit Ghide Maile, Mohammad Gohari und seiner Familie hat das Kirchasyl geholfen. Sie haben wieder eine Zukunft. Sie können in Frieden, Freiheit und Würde weiterleben.
Und nicht nur das: Das Netzwerk aus Menschen, die hinter jedem Kirchenasyl stehen, hat dafür gesorgt, dass sie sich besser integrieren konnten. Pfarrer Andreas Lipsch brachte es während der Frühjahrssynode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau auf den Punkt: „Wir brauchen keine Rückkehr-, sondern eine Integrationsoffensive.“
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