„Solidarität kennt keine Landesgrenzen“
Solidarität
ist eine schöne Sache. Vielleicht die schönste überhaupt. Aber ist nicht
irgendwann eine Grenze erreicht? Zum Beispiel, wenn immer mehr Flüchtlinge nach
Europa kommen? Es scheint, als ob eine wachsende Zahl von Menschen diese Frage
mit „Ja“ beantworten möchte. Erst im Juli hatte die Wochenzeitung „Die Zeit“ mit
einem Stück über die Seenotrettung von Geflüchteten („Oder soll man es
lassen?“) eine Kontroverse ausgelöst. Ein Satz sticht heraus. Über
die Retter, schreibt die Autorin Mariam Lau, und das ist als schärfste Kritik
gemeint: „Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.“
In Zeiten also, in denen Menschenrechte, Solidarität und Empathie gegenüber Schwächeren verhandelbar geworden sind, passt der Titel des 13. Hessischen Sozialforums in der Evangelischen Akademie am Römerberg gut: „Kein Essen in Hessen – (Grenzen der) Solidarität in einer vielfältigen Gesellschaft“. Die Debatte um die Tafeln steht dabei stellvertretend für einen Wahrnehmungswandel in der Gesellschaft.
Abgeleitet von den Welt- und den Europäischen Sozialforen tagt der Zusammenschluss seit fast anderthalb Jahrzehnten. Als Bündnis aus sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen, aus Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden fordert es eine andere, alternative und soziale Politik in Hessen - und einen politischen Neustart für Europa.
Die Tafeln sind jüngst in die Schlagzeilen gekommen, weil nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Solidarität des Essenausteilens ausweiten möchten, auf Geflüchtete zum Beispiel. Wie weit reicht die Solidarität in unserer Gesellschaft also wirklich? Geht Solidarität nur in den Grenzen des eigenen Nahraums, der eigenen Nachbarschaft oder Nation? Wie weit reicht Solidarität und wie weit kann sie in einer globalisierten und vielfältiger werdenden Gesellschaft reichen? Solchen Fragen widmet sich das gut besuchte Forum im größten Saal der Akademie.
Bei der Podiumsdiskussion zum Auftakt trifft Willi Schmidt, der Vorsitzende des Landesverbands Hessischen Tafeln, auf den Journalisten und Publizisten Stephan Hebel, auf die Landtagsabgeordneten Janine Wissler (Die Linke) und den Bundestagsabgeordneten Matthias Zimmer (CDU) sowie den Moderator Felix Blaser von der Diakonie Hessen.
Die Tafeln sammeln mit zahlreichen Ehrenamtlichen übriggebliebene, qualitativ einwandfreie Lebensmittel in den Läden ein und geben sie denen, die sie brauchen. Zimmer nennt es eine Herausforderung, „dass sich die Anzahl unserer Kunden mit den Flüchtlingen um 20 Prozent erhöht hat.“ Das habe zu Unruhe bei einigen Tafeln geführt, während man sich bei anderen einig sei: „Die sind genauso arm wie wir.“ Gerade das Konkrete der Hilfe durch die Tafeln gefalle ihm: „Man hilft den Menschen, deren Gesichter man vor sich sieht.“
Das Engagement der Tafeln sieht Stephan Hebel allerdings nicht unkritisch. Hebel, der auch in der Jury zum „Unwort des Jahres“ sitzt, schlug sofort die „Grenzen der Solidarität“ als ein solches vor. „Solidarität kann keine Grenzen kennen, auch keine nationalen“, betonte er. Außerdem könne es keine „Solidarität nach Haushaltslage“ geben, weil sie „immer auch eine Verteilungsfrage“ sei. „Wenn die Politik es versäumt, an den Verhältnissen in einem steinreichen Land 15 Prozent Armut zuzulassen, ist das unterlassene Hilfeleistung.“ Echte Solidarität würde Tafeln überflüssig machen. Auch wünscht sich Stephan Hebel, dass die Tafeln auch sozialpolitische Forderungen stellen sollten. Wohltätigkeit alleine reiche nicht. Hierzu zitierte er Johann Heinrich Pestalozzi: „Wohltätigkeit ist die Ersäufung des Rechts im Mistloch der Gnade.“
Janine Wissler schlug ein weiteres Unwort vor: „Asyltourismus“. Feste Kapazitätsgrenzen für Hilfe könne es nicht geben, „denn das sind immer politische Entscheidungen“.
Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) lobte die "lange Tradition der Toleranz" der Stadt Frankfurt - mahnte aber an, dringende Probleme anzugehen, etwa das Fehlen von bezahlbaren Wohnungen.
Pfarrer und Studienleiter Eberhard Pausch, der das Sozialforum organisiert hatte, erinnerte an den Gedanken von Jürgen Habermas, dass Solidarität weniger als eine juristische und mehr als eine moralische Kategorie sei. Es sei eine politische. Man müsse sie praktisch einlösen, wo immer es möglich sei.
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