Radikalisierung: Wenn alle behaupten, sie wären „die Mitte“
Dass Ränder Anspruch auf die Mitte erheben, macht gegenwärtig
nicht nur der Politik zu schaffen. Auch in den Religionen gerät die für Stabilität
und Orientierung sorgende Mitte immer mehr ins Wanken. Der Direktor des Instituts für Studien der Kultur und
Religion des Islam an der Frankfurter Goethe-Universität, Bekim Agai, beobachtet
das zum Beispiel bei der deutschen Islamkonferenz, der Vertreterinnen und
Vertreter verschiedener muslimischer Strömungen angehören: „Alle sehen sich in
der Mitte und bezeichnen sich als moderat.“
Die Mitte ist immer eine relative Position, hob Agai bei einer Veranstaltung über „Religion – Zentrum und Peripherie“ im Haus am Dom hervor. Denn wo sie ist, das entscheidet eben das, was drumherum ist: Wenn sich der Diskurs und die Mehrheitsmeinung verschieben, dann wandert die Mitte mit.
Noch einen anderen Trend beobachtet der evangelische Religionswissenschaftler Michael Blume, und zwar die Polarisierung in zwei Fraktionen, die im Extremfall dazu führen kann, dass die Mitte völlig verloren geht. Bei einem humanitären Einsatz im Nordirak vor drei Jahren habe er festgestellt, dass es dort nur noch radikale Gruppierungen gibt, den „Islamischen Staat“ auf der einen Seite und eine große Gruppe von Glaubenszweiflern auf der anderen, „die entsetzt sind, was im Namen ihrer Religion geschieht.“
Diese Tendenz zur Polarisierung gibt es nicht nur im Islam, sondern auch in Bezug auf viele andere Themen. Dazu trügen auch die ausufernden Verschwörungsglauben bei, die sich vor allem über das Internet verbreiten und radikalen Kräften Wachstumsschübe bescheren, so Blume. Einer aktuellen Erhebung zufolge würden in Deutschland 34 Prozent der Menschen an Verschwörungstheorien glauben. Etwa ebenso viele sähen in Politikern „Marionetten dahinterstehender Mächte“.
Was kann man dem entgegensetzen? Eine Chance liege darin, dass in Deutschland zur Zeit „die muslimische Mitte neu ausgehandelt“ wird, so Agai. Die dritte und vierte Generation der Muslime befinde sich in einer völlig anderen Lebensrealität als ihre Großeltern und Urgroßeltern, mit deren Moscheestrukturen sie wenig anfangen könne. Sie müssten sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen können, Ausgrenzung sei kurzsichtig.
Darauf setzt auch Michael Blume, der mit einer Muslimin verheiratet ist und kürzlich ein Buch über den „Islam in der Krise“ geschrieben hat. „Die gebildete Jugend geht nicht mehr in die Moscheen. Den Verbänden bricht zunehmend die Mitte weg“, so seine Einschätzung. Er könne er nur hoffen, dass die Religionen ihre „goldene Mitte“ finden, nämlich: „Die Balance aus Vernunft und Glauben im Dienst am Leben.“
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