Populismus: „Die gesellschaftliche Mitte ist noch nicht verloren“
„Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du Schwein!“ – wie sehr die Hemmschwellen auf rechter Seite gesunken sind, bekommt die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yildiz täglich zu spüren. Im Prozess gegen die rechtsextreme Terrororganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) hatte sie die Angehörigen von einem der Opfer vertreten und dafür die widerwärtigsten Diffamierungen kassiert. Unterzeichnet mit „NSU 2.0“ wurde ihr gedroht, auch damit, ihre Tochter zu „schlachten“.
Mit solchen rassistischen Ausfällen schlägt sich die Juristin aber nicht nur in diesem Fall herum. Auch weil sie mutmaßliche islamistische Gefährder verteidigt wird sie regelmäßig beschimpft und beleidigt. „Das geht bis hin zu ‚Vergasen‘ und ‚Entsorgen‘, und die Leute schreiben mir dann noch mit Klarnamen samt Adresse“, erzählte Başay-Yildiz bei einer Podiumsdiskussion in der Evangelischen Akademie Frankfurt.
Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff findet es nicht sehr überraschend, dass laut einer aktuellen „Mitte-Studie“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung etwa die Hälfte aller Deutschen Geflüchtete abwertet und an Verschwörungstheorien glaubt. „Das müssen keine verfestigten Einstellungen sein“, sagt die Leiterin des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Anders als viele hält sie die gesellschaftliche „Mitte“ in Deutschland noch nicht für verloren. „Die Mitte und damit das, was als normal begriffen wird, ist immer ein umkämpfter Platz.“
Dass populistische Sichtweisen zunehmen, führt Nicole Deitelhoff darauf zurück, dass die Welt immer komplexer wird. „Menschen tendieren dazu, nach einfachen Erklärungen zu suchen“, sagte die Politikwissenschaftlerin, die an der Frankfurter Goethe-Uni auch Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungen ist. Populisten nutzten dies aus, indem sie mit dem „Kampfbegriff Volk“ die Abkehr von etablierten Institutionen und Eliten befeuern. Damit einher gehe meist eine Radikalisierung. „Der Weg von einer populistischen zu einer extremistischen Haltung muss aber nicht immer von Gewalt begleitet sein“, machte Deitelhoff klar. Außerdem sei es auch „nicht unbedingt negativ, Systeme in Frage zu stellen“, denn: „Wir brauchen radikale Ideen.“
Radikale Ideen bringen nach dem Urteil der Frankfurter Integrations- und Bildungsdezernentin Sylvia Weber eine Gesellschaft freilich nur voran, wenn es entsprechenden Raum für Diskussionen gibt. Derzeit sei es zum Beispiel kaum möglich, sachlich über die Gedanken des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert zu reden. „Mir macht es große Sorgen, dass es immer schwieriger wird, ergebnisoffene Diskussionen zu führen“, so die SPD-Politikerin.
Diesen Missstand lastet sie auch der Ausbreitung rechter Gesinnungen an. „Der Rechtsextremismus wächst am dynamischsten und ist am gefährlichsten. Pro Jahr gibt es rund zweitausend Angriffe auf Flüchtlinge und Migranten.“ Hingegen sei der Linksextremismus seit 2013 um 44 Prozent geschrumpft und auch der Islamismus rückläufig.
Bei der von der START-Stiftung und der Deutsche Bank Stiftung in Kooperation mit der Bildungsstätte Anne Frank und der Evangelischen Akademie organisierten Veranstaltung hob Sylvia Weber die Situation in Frankfurt hervor. In der Stadt, in der so etwas wie Pegida nie Fuß fassen konnte, gebe es „sehr viel positive Energie“, eine „ausgeprägte Willkommenskultur“ und eine „offene und tolerante Gesellschaft“.
Eine Einschätzung, die Moderator Meron Mendel teilt. Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank erzählte von seiner ersten persönlichen Begegnung mit Rechtsradikalen 2017 auf der Buchmesse. Sein Stand sei direkt gegenüber vom Antaios-Verlag gewesen, wo er neben Gestalten wie Götz Kubitschek und Björn Höcke eine „ganze Parade von Neo-Nazis und Skinheads“ beobachten konnte.
Seda Başay-Yildiz vermutet, dass sich das Problem Rechtsextremismus verstärken wird. Sie sieht zurzeit keine brauchbaren Lösungen. Nach 438 Verhandlungstagen im NSU-Prozess müsse sie bilanzieren: „Der Staat hat versagt und war auf dem rechten Auge blind. Ich kann nicht fassen, dass das in Deutschland möglich war.“
Immerhin könne sie die Reaktion auf die von Frankfurter Polizisten verfassten Drohbriefe als positives Beispiel verbuchen. „Man hat sofort und schnell ermittelt und auch keine Kollegen geschont.“ Mit Blick auf die von der „Mitte-Studie“ erkannte Verfestigung rechtspopulistischer Einstellungen und menschenfeindlicher Vorurteile wünschte sich die Rechtsanwältin, dass „in Deutschland mehr Leute Haltung“ zeigen. Zumal die „besorgten Bürger oft überhaupt keine Berührung mit Dingen haben, die ihnen Sorge bereiten müssten.“
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