Friedenspfarrerin Müller-Langsdorf: „Pazifismus ist eine große Kraft“
Frau Müller-Langsdorf, hat Sie der Angriffskrieg von Wladimir Putin auf die Ukraine überrascht?
Er hat mich entsetzt, überrascht aber nicht unbedingt. Ich teile nicht die Einschätzung von Bundeskanzler Scholz, dass das eine „Zeitenwende“ gewesen sei. Bevor dieser Krieg jetzt losging, gab es schon eine lange Geschichte verpasster Chancen, gebrochener Versprechen und verlorenen Vertrauens. Abrüstungs- und Kontrollverträge wurden über Jahrzehnte gebrochen, und zwar beidseitig. Die Chance einer Auflösung der beiden großen militärischen Blöcke wurde vertan. Die stetige Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen wurde politisch ignoriert. Und speziell in der Ukraine gibt es ja nicht erst seit dem 24. Februar Krieg, sondern schon seit acht Jahren.
Es ist jetzt aber eine akute neue Situation eingetreten, in der man handeln muss. Ist es richtig, dass Deutschland und die Europäische Union nicht nur wirtschaftliche Sanktionen beschlossen haben, sondern auch Waffen in die Ukraine liefern?
Für alle friedensbewegten und pazifistischen Menschen ist das wirklich ein schmerzhaftes Erleben. Und es macht auch vielen Menschen Angst. Wir merken das hier im Zentrum daran, dass wir wieder relativ viele Anfragen zur Kriegsdienstverweigerung bekommen. Zugleich kann ich die Waffenlieferungen in dieser Situation nachvollziehen. Die Bundesregierung steht unter großem öffentlichem und internationalem Druck. Ich halte aber weiterhin die im Koalitionsvertrag formulierte Strategie, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, für den nachhaltigeren und besseren Weg.
Auch bei einem Mann wie Putin? Viele sagen ja, dass Pazifismus bei Aggressoren, die so gnadenlos ihre Macht ausspielen und sogar mit Atomwaffen drohen, nicht funktionieren kann.
Ich bin anderer Meinung. Pazifismus ist eine große Kraft, die für Konfliktlösungen gewaltfreie Wege wählt. Es gibt viele historische Beispiele dafür, wie mit zivilem Widerstand und gewaltfreien Mitteln großes Leid grundlegend verändert werden konnte, zum Beispiel Sklaverei, Kolonialismus und vieles mehr. Pazifismus ist eine Kraft, die darauf zielt, dass es eine Welt gibt, in der Menschen sicher und in Frieden leben können. Mich hat die Bemerkung des CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz im Bundestag maßlos geärgert, als er sagte, Lichterketten, Friedensgebete und Ostermärsche wären zwar eine schöne Sache, aber mit Moral allein würde die Welt nicht friedlich. Ich finde das angesichts der Tatsache, dass hunderttausende Menschen gegen den Krieg auf die Straße gehen, und zwar nicht nur in Deutschland, dass die Kirchen überall zu Friedensgebeten aufrufen, geradezu unverschämt. Niemand von diesen Demonstrierenden oder Betenden hat erklärt, er hätte eine bessere Moral. Aber was alle diese Menschen mitbringen, das ist die Erinnerung an die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern aus dem Zweiten Weltkrieg, die Bilder im Kopf von Hiroshima und Vietnam. Krieg tötet, und wenn er nicht tötet, verwundet er an Leib und Seele, über Generationen. Ich bezweifle, dass Aufrüstung und Armeen Frieden schaffen.
Trotzdem scheint ein Motto wie „Schwerter zu Pflugscharen“ an seine Grenzen zu stoßen, wenn auf der anderen Seite jemand ist, mit dem man offensichtlich nicht mehr rational reden kann.
Das biblische Bild „Schwerter zu Pflugscharen“ beschreibt einen Weg, wie man vom Krieg zum Frieden kommen kann. Das geht nur durch systematische und kontrollierte Abrüstung, klare Regelungen und mit einem starken Recht. Solange das Recht des Stärkeren herrscht, gibt es keinen Frieden.
Ein christliches Gebot lautet, man soll nicht nur seine Freunde lieben, sondern auch seine Feinde. Gilt das auch für einen wie Putin?
Natürlich ist zu benennen, dass das ein völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine war, dass es Bombardierungen auf die Zivilbevölkerung gibt, dass Putin auch im eigenen Land Widerstand unterdrückt. Aber all das ist vor Gerichten gegebenenfalls zu klären, und zwar nach den Regeln internationalen Rechts. In der Bibel haben wir viele Belege, wie über Feinde und Tyrannen geklagt wird, zum Beispiel im Psalm 64. Menschen klagen an, was ihnen geschieht, und setzen auf Gottes Gerechtigkeit. Es gibt ein weltliches Gericht, das ist zu Rate zu ziehen, dafür gibt es bestimmte Instrumente. Aber unsere Aufgabe als Christinnen und Christen kann es doch nur sein, dass wir auch angesichts aller Feindseligkeiten eine differenzierte Sprache wählen. Also zum Beispiel nicht sagen, wie jetzt so manche wieder: „Der Russe ist unser Feind.“ Das stimmt ja nicht. Es gibt in Russland Widerstand gegen Putin, es gibt mutige Menschen, die für den Frieden eintreten.
Was können die Kirchen sonst noch tun?
Es gibt von Seiten der Kirchen in der Ukraine, in Belarus und auch in Russland Stimmen, die Frieden fordern und zur Versöhnung aufrufen. Die Kirchen könnten ihre internationalen Beziehungen und Kontakte nutzen, um zur Verständigung beizutragen. Ich finde aber auch, dass die Sprache des Gebets in Gottesdiensten eine eigene Qualität hat, wenn es darum geht, die Sorgen und Emotionen der Menschen aufzugreifen, Orientierung zu geben, Trost zu spenden. Das kann im Gebet sehr gut funktionieren.
Aber ist Beten nicht zu wenig? Die Menschen, die in der Ukraine angegriffen werden, wollen doch nicht getröstet werden, sie fordern tatkräftige Solidarität. Haben sie nicht das Recht, sich auch unter Einsatz von Gewalt zu verteidigen, und ist es nicht unsere Pflicht, ihnen zu helfen?
Wenn das Kind erstmal in den Brunnen gefallen ist und der Krieg da ist, kann man nur kleine Schritte tun, um da wieder rauszukommen. Selbstverständlich haben die Ukrainer die Freiheit, zu entscheiden, welchen Weg sie wählen. Es steht niemandem zu, sich da einzumischen, und wenn sie jetzt Waffen fordern, dann ist das so. Ich bin aber trotzdem überzeugt, dass mehr Waffen keine Lösung sind.
Die Bundeswehr soll ja nun finanziell aufgestockt werden, Bundeskanzler Scholz spricht von hundert Milliarden Euro Sondervermögen und einer dauerhaften Erhöhung des Etats. Ich nehme an, Sie sind dagegen?
Richtig, das sehe ich kritisch. Aber nicht nur ich. Die hundert Milliarden müssen ja erst noch im Parlament abgestimmt werden, und es gibt schon Anfragen und Kritik von Abgeordneten. Martina Fischer, die Friedens- und Konfliktforscherin des evangelischen Hilfswerks „Brot für die Welt“, warnt zu Recht davor, dass nun Mittel aus anderen Bereichen abgezogen werden könnten. Es gibt aber noch mehr große Menschheitskrisen, die wir bewältigen müssen, nämlich Pandemie, Klimakrise, Hunger und Artensterben. Es ist zu befürchten, dass die nun in den Hintergrund geraten.
0 Kommentare
Zu diesem Artikel wurden noch keine Kommentare verfasst. Schreiben Sie doch den ersten.