Migrant*innen und Geflüchtete kommen kaum zu Wort
Auch in der aktuellen Flüchtlingskrise an der türkisch-griechischen Grenze hat es sich nicht geändert: Migrantinnen, Migranten sowie Geflüchtete als Akteure spielen in der Berichterstattung über Migration und Flucht kaum eine Rolle. Sie werden meist als Teil einer anonymen Gruppe beschrieben und kommen kaum selbst zu Wort. Wenn doch, sind es viermal mehr Männer als Frauen, obwohl etwas mehr als die Hälfte aller Geflüchteten und Migranten Frauen sind.
Das ist ein zentrales Ergebnis einer Studie, die die Otto Brenner Stiftung gemeinsam mit dem Erich-Broos-Institut für internationalen Journalismus der TU Dortmund initiiert hat. Sie untersuchte erstmalig die Print- und Online-Berichterstattung zum Thema Migration in 16 europäischen Ländern (inklusive Russland) sowie den USA im Zeitraum August 2015 bis Januar 2016 sowie Oktober 2017 bis März 2018.
Gefragt, warum es so wenig individuelle Geschichten von Migranten, Migrantinnen und Geflüchteten gibt, sagte Matthias Dobrinski von der Süddeutschen Zeitung, es liege nicht selten daran, dass „Menschen im Journalismus Arbeit machen“. Wer Menschen zu Wort kommen lassen will, muss das Büro verlassen, zu den Menschen hinfahren, Sprachbarrieren überwinden und kommt dann eventuell mit zweifelhaften Ergebnissen zurück.
Allerdings machen es amerikanische Zeitungen oft besser, wie Marcus Kreutler, der die Studie „Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien“ zusammen mit Susanne Fengler geschrieben hat, hervorhob. Anders als die von ihm untersuchten europäischen Zeitungen stellten die New York Times und die Washington Post zahlreiche Migranten und Migrantinnen dar und zitierten sie auch in 65 Prozent der Fälle. Das liege sicher daran, dass der amerikanische Journalismus generell mehr mit Einzelschicksalen arbeite. „Aber auch daran, dass sie sich die in Amerika ausgeprägte Berufsauffassung des Journalismus „a voice to the voiceless“ zu sein, also den „Stimmlosen eine Stimme“ zu geben“, zu Herzen genommen hätten.
Weiterer Schwachpunkt in der europäischen Berichterstattung zum Thema Migration sei, dass Herkunft und Kontext oft nur vage beschrieben werden, so das Ergebnis der Studie. In Deutschland konzentrierten sich viele Zeitungsartikel einseitig auf Flucht und Migration aus dem Nahen Osten, während in Italien und Frankreich afrikanische Eingewanderte im Mittelpunkt stehen, obwohl auch dort viele Menschen aus dem Nahen Osten ankommen.
Die Studie belegt, dass die Flüchtlingskrise 2015/16 insbesondere von deutschen und ungarischen Medien zum Thema gemacht worden ist. Außerdem erhielt sie große Aufmerksamkeit in den internationalen Leitmedien New York Times, Guardian sowie NZZ. „Die geringe Beachtung in europäischen Medien abseits von Deutschland mag mit dazu beigetragen haben, dass bislang keine „Europäische Lösung“ in Fragen von Flucht und Migration gefunden wurde“, sagte Kreutler im Rhein-Main-Forum.
Weniger überraschend ist, dass westeuropäische und eher links oder liberal ausgerichtete Medien verstärkt auf Situation und Hilfe von Geflüchteten und Migrant*innen fokussieren, während osteuropäische und eher rechts oder konservativ ausgerichtete vor allem auf Probleme und Proteste aufmerksam machen. Aber die Studie belegt auch, dass nicht nur in Deutschland ein unterschiedliches Themen- und Meinungsspektrum angeboten wird, sondern auch in Ländern wie Ungarn oder Polen: Während hierzulande die Süddeutsche Zeitung deutlich migrationsfreundlicher ausgerichtet ist als die FAZ, berichtet in Ungarn das viel gelesene Online Magazin index.hu mehr über die Situation von Migranten als das ganz auf der Anti-Migrationslinie der Regierung liegende Blatt Magyar Hirlap.
Menschen in ganz Europa müssten Flucht und Migration besser verstehen, denn sie werden in Zukunft immer wieder damit konfrontiert sein, so das Fazit. Letztlich helfe nur der Blick über den Tellerrand: Medienschaffende in den verschiedenen Ländern der EU und in den Herkunfts-, Transit- und Zielländern von Migrant*innen und Geflüchteten sollten sich besser vernetzen.
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