„Das Gebot der Gewaltfreiheit ist ein Gebot der Vernunft“
Herr Kerntke, viele Menschen, die lange Pazifist:innen waren, sind sich im Moment nicht mehr so sicher, ob der Verzicht auf militärische Unterstützung der Ukraine in diesem Krieg weiterhilft. Auch aus der Kirche sind verschiedene Stimmen zu hören – darf das so sein?
Die Evangelische Kirche ist vielstimmig, das ist gut. Wir sollten nicht Gegensätze aufbauen. Mir ist aber wichtig, dass auch in der öffentlichen Vielstimmigkeit der Weg der Gewaltfreiheit klar und deutlich betont wird. Wir müssen miteinander reden. Wo gut zugehört wird, differenziert sich das Denken.
Sollte die Evangelische Kirche klar Position beziehen?
Ja. Die Kirche wird im Moment fragend angeschaut – zu Recht. Die Antwort gibt es für uns im Grunde seit 2000 Jahren. Der frühere Friedenspfarrer Martin Niemöller fragte immer wieder: „Was würde Jesus tun?“ Die Antwort ist dann oft überraschend eindeutig. Gewalt kann keine Lösung sein, und sie ist auch keine Lösung beim Versuch, den Krieg gegen die Ukraine zu stoppen. Wir haben Handlungskonzepte der Gewaltfreiheit; eigentlich sind wir gut aufgestellt. Gewaltfreiheit ist eine Glaubensfrage, aber nicht nur. Sie ist auch ein Gebot der Vernunft. Pier Paolo Pasolini, der sich in seinem Filmschaffen so sehr am Glauben rieb, sagte: „Ich bin nicht von Natur aus Pazifist, sondern ich habe mich dazu entschlossen.“ Das kann ein Weg sein.
Manche würden jetzt sagen, die Gewaltfreiheit entspringt eher der Intuition – und militärische Interventionen sind zwar schrecklich, aber in manchen Fällen vernünftig.
Es ist eher anders herum. Die Intuition in uns schreit: Es gab einen Angriff, da muss man sich doch wehren. Die Erfahrung aber zeigt immer wieder ganz klar: Eine Stadt, die mit Waffengewalt verteidigt wurde, das weiß ich leider auch aus eigener Anschauung, unterscheidet sich von einer Stadt, deren Tore den Angreifern geöffnet wurden: Die erste wird weitgehend durch den Kampf zwischen Angreifern und Verteidigern zerstört; die zweite bleibt mit ihren Menschen erhalten. Gewalt ist nicht vernünftig. Und führt nicht zum Frieden.
Sie arbeiten mit an dem großen Projekt „Sicherheit neu denken – von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik“, das von der Evangelischen Landeskirche in Baden ausging. Worum geht es dabei?
Es geht darum, die längst als unbrauchbar und oft als kontraproduktiv erwiesene militärische Orientierung von Sicherheitspolitik zu ersetzen durch zivile Bündnisse. Ein Prozess in klaren Einzelschritten. Von uns, die sich ihm anschließen, verlangt er nicht nur das Protestieren. Er verlangt auch Auseinandersetzung und Verhandeln mit denen, die für diese Entwicklung benötigt werden.
Wer ist das?
Ich nenne stellvertretend für viele hier die NATO – dort hat in den letzten Jahren gut wahrnehmbar eine Umorientierung begonnen. Diese muss hier und an vielen anderen Stellen gestärkt werden. Das sind wichtige Gesprächspartner! Kooperation statt Konkurrenz, Ausgleich schaffen, wo Ungerechtigkeit herrscht, statt ungerechte Zustände mit Waffengewalt zu festigen – das verlangt auch die Stärkung übergeordneter Instanzen, vor allem von OSZE und UN.
Wie ist die Resonanz auf diese Ideen?
Das Szenario „Sicherheit neu denken“ zieht auch außerhalb der Kirche viele Menschen an. Rund 20 große Organisationen haben sich bereits angeschlossen für die gemeinsame Arbeit. Wir werden die aktuelle Tendenz zur weltweiten militärischen Aufrüstung mittelfristig stoppen und durch eine intelligente, zukunftsfähige zivile Sicherheitspolitik ersetzen.
Wie könnte im aktuellen Krieg denn ein friedlicher Weg aussehen?
Aus der Ukraine erreichen uns immer wieder aus seriösen Quellen Nachrichten über Dorf- und Stadtbewohnerinnen, die sich russischen Panzern ohne Waffen in den Weg stellen – und deren Leben von den Soldaten respektiert wird. Solch kraftvoll gewaltfreies Handeln kann dort entstehen, wo es starke Gemeinschaften gibt. Das erinnert ein bisschen an den Widerstand in Prag 1968. Friedfertigkeit und Widerstand passen gut zusammen!
Was gibt es sonst für Möglichkeiten aus Ihrer Sicht?
Die Evangelische Kirche hat neben ihrer verständlichen Beklemmung auch eine befreiende Wahlmöglichkeit: Wir können wählen, uns vernünftig und klar mit den Kriegsdienstverweigernden in der Ukraine und in Russland zusammentun. Kriegsdienstverweigernde in aller Welt sind organisiert, sie gehören der Internationale der Kriegsdienstgegner:innen an und werden von Kriegsdienstgegner:innen in Deutschland unterstützt. Unterstützung durch die Kirche wurde und wird schon lange geübt – doch heute ist sie in meinen Augen auch eine klare und öffentlich gut kommunizierbare Handlungsanleitung.
Was können wir jetzt aktuell tun?
Wann, wenn nicht jetzt sollten wir beginnen, in unserer eigenen Umgebung gewaltfreies Handeln und Gerechtigkeit durch Zusammenarbeit zu stärken? Am 16. März haben wir in Offenbach-Bürgel in den Saal der evangelischen Gemeinde eingeladen. Unterschiedlichste lokale Akteur:innen kamen, um sich genau in der jetzigen politischen Situation, die von Krieg geprägt ist, zu informieren über das Szenario zur zivilen Sicherheitspolitik. Und als sie am Ende des Abends gingen, hatten sie sich für unsere lokale Ebene auf den Beginn eines Gemeinschaftsprogramms geeinigt. Man muss es nur wollen, und man muss es nur machen. Und dann weitermachen. Nie aufhören anzufangen, nie anfangen aufzuhören!
Dr. Wilfried Kerntke (Jahrgang 1954) ist ein deutscher Konfliktforscher, Autor, und Organisationsberater. Er berät die Vorstände von Unternehmen und anderen Organisationen in mehreren Ländern, darunter Kirchengemeinden, Architekturbüros und Banken in Deutschland, die Wahrheitskommission in Mali und das Bildungsministerium im Sudan. Seit 2018 engagiert Kerntke sich als Kirchenvorstand in der Gemeinde Offenbach-Bürgel.