Helferin der Verfolgten: Erica Ludolph wird 100
Mit ihrer Mutter hatte sie sich in der Dreifaltigkeitsgemeinde 1935 einem Kreis der Bekennenden Kirche angeschlossen, der sich um jüdische Menschen kümmerte und sie mit Lebensmitteln versorgte. In den folgenden Jahren verstärkte sie ihr Engagement und stand bis zum Ende des Nazi-Regimes Verfolgten zur Seite.
Weil sie unter anderem französische Kriegsgefangene mit Nachrichten und Essen versorgte, wurde Erica Ludolph angezeigt und 1943 zur Gestapo beordert. Sie rechnete mit dem Schlimmsten und hatte den Koffer bereits gepackt. In dem Verhör konnte sie jedoch die Anschuldigungen entkräften – mit „Lügen, bis sich die Balken bogen“, wie sie später erzählte – und wurde nur verwarnt.
Die Drohung, wenn man noch einmal etwas von ihr höre, wisse sie, was ihr blüht, schreckte Erica Ludolph nicht ab. Sie besorgte sich vielmehr einen gefälschten Ausweis, um weiter Kurierdienste leisten zu können. Im Jahr darauf verhalf sie der Mutter ihrer besten Freundin, Margarete Knewitz, zur Flucht. Die Christin jüdischer Herkunft hatte eine Vorladung zur Gestapo erhalten, was ihre bevorstehende Deportation bedeutet hätte.
Riskante Flucht von Frankfurt nach Cuxhaven
Erica Ludolph wandte sich daher an Pfarrer Heinz Welke, der einem Netzwerk von Regimegegnern angehörte, das Unterschlupfmöglichkeiten und Fluchtwege organisierte. Er beschaffte falsche Papiere und ein Versteck, Ludolph selbst begleitete die Flüchtige auf der riskanten Reise von Frankfurt nach Cuxhaven. 1944 konnte man nur noch Fahrkarten für maximal 100 Kilometer kaufen, weshalb die beiden vier Tage und Nächte unterwegs waren, ständig auf der Hut und voller Angst vor Kontrollen.
Ihre mutigen Taten hielt Erica Ludolph lange unter Verschluss. Die Geschichte von der Fluchtbegleitung erzählte sie erstmals der Soziologin Petra Bonavita, die im Jahr 2007 bei Recherchen auf Erica Ludolph gestoßen war. In ihrem zwei Jahre später erschienenen Buch „Mit falschem Pass und Zyankali“ widmete Bonavita der Rettungsaktion ein eigenes Kapitel.
Petra Bonavita pflegt bis heute den Kontakt. Im Laufe der Zeit erfuhr sie zwar noch einiges mehr, aber zu ihrem Bedauern nur bruchstückhaft. „Erica Ludolph ist sehr zurückhaltend und redet nicht über Einzelheiten oder Zusammenhänge. Sie will auch nicht, dass man sie Retterin nennt, weil sie ihr Handeln als selbstverständlich begreift. Es ist für sie der im Alltag gelebte Glaube“, so die Forscherin.
Im Nachkriegsdeutschland galt sie als „Volksverräterin“
Auf diese Haltung ist Petra Bonavita bei vielen Gegner:innen des NS-Regimes gestoßen. Und vielleicht ist nicht nur Bescheidenheit der Grund. Denn Erica Ludolph und viele andere, die aus heutiger Sicht Held:innen der Menschlichkeit waren, wären im Nachkriegsdeutschland noch lange „als Volksverräterin betrachtet worden, hätten sie jemandem derartiges anvertraut“, so Bonavita.
Auch Erica Ludolph fühlte sich nach 1945 nur unter Gleichgesinnten wohl. Im Siegmund Freud Institut traf sie sich wöchentlich mit Holocaust-Überlebenden und besuchte regelmäßig einen Gesprächskreis der Jüdischen Gemeinde. Nicht nur privat bewegte sie sich fast nur im Kreise jener, die sich der Erinnerungs- und Gedenkarbeit widmeten. Nach ihrem Französisch- und Englisch-Studium, einige Semester auch in den USA, leitete Ludolph ab 1960 die „Hilfsstelle für rassisch verfolgte Christen“ des Diakonischen Werks Hessen-Nassau. Bis zu ihrer Pensionierung 1981 betreute sie in Frankfurt verbliebene und aus der Emigration zurückgekehrte „rassisch“ Verfolgte und kümmerte sich darum, dass sie Beihilfen, Entschädigungen und Renten erhielten.
Für den Publizisten Hartmut Schmidt war Erica Ludolph bei seinen Nachforschungen über den Umgang der hessischen Kirchen mit Christ:innen jüdischer Herkunft „über Jahre hinweg die Hauptansprechperson“, der er „sehr viele und wichtige Informationen“ zu verdanken habe. Sie hat auch etliche Stolpersteine initiiert und finanziert. „Erica Ludolph kann nicht anders, als sich zu engagieren“, sagt Schmidt.
„Erica Ludolph hat mehr getan, als sie erzählte“
Diese Erfahrung machte auch der Historiker und Sachbuchautor Dieter Maier. Er lernte Ludolph in den 1970er Jahren kennen, als er für Amnesty International tätig war und mit chilenischen Flüchtlingen arbeitete. 2011 traf er sie anlässlich einer Ausstellung zum 100. Geburtstag von Pfarrer Heinz Welke wieder und hat danach wiederholt mit ihr gesprochen. Auch er ist überzeugt: „Erica Ludolph hat mehr getan, als sie erzählte und dafür fast völlig auf Privatleben und gänzlich auf eine Familie verzichtet.“
Trotzdem plagen sie bis heute Schuldgefühle, sagt Petra Bonavita, weil sie sich vorwerfe, nicht mehr gemacht zu haben. Eine Begebenheit laste besonders schwer auf ihr: Gegen Ende des NS-Regimes sei Erica Ludolph zufällig am Hauptbahnhof unterwegs gewesen, als dort Polizisten etwa dreißig jüdische Menschen zusammentrieben. Sie könne sich nicht verzeihen, dass sie damals „die Beine in die Hand genommen hat und vorbeigerannt ist, statt ihr Leben zu opfern“.
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