„Zu viel Armut ist ein Problem für die Demokratie“
Herr Blaser, was verstehen Sie unter verdeckter Armut?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Armut zu definieren. Eine geht davon aus, dass als arm derjenige gilt, der staatliche Unterstützung braucht und in Anspruch nimmt. Dazu zählen also Männer und Frauen, die Grundsicherung bekommen, Wohngeld beziehen oder Arbeitslosengeld II. Aber viele Menschen, denen diese Leistungen zuständen, rufen sie nicht ab. Aus Scham, aus Unwissenheit, Stolz oder weil die Bürokratie zu kompliziert ist. Das Deutsche Institut für Wirtschaft geht so zum Beispiel davon aus, dass 60 Prozent der Anspruchsberechtigten die Grundrente nicht in Anspruch nehmen.
Wie leben Menschen mit verdeckter Armut?
Ein Beispiel sind etwa ältere Frauen, deren Partner stirbt. Viele geben sich dann große Mühe, nach außen die Fassade aufrecht zu erhalten und leben sehr entbehrungsreich. Andere gehen zur Tafel, bauen auch durchaus selbst etwas an oder versuchen, einen Minijob zu bekommen. Grundsätzlich heißt Armut nicht nur, wenig Geld zu haben. Es bedeutet, nicht am sozialen und kulturellen Leben teilhaben zu können, oftmals nur einen kleinen Wohnraum zu haben und häufiger krank zu sein. Menschen mit verdeckter Armut tauchen nicht nur nicht in der Statistik auf, sondern auch nicht mehr in der Gesellschaft.
Wie viele Menschen über 65 Jahre in Frankfurt und Offenbach leben in Armut?
Im Jahr 2017 bezogen in Frankfurt 17.567 Menschen über 65 Jahre die Grundsicherung. Rechnet man 60 Prozent verdeckte Armut hinzu, wären es insgesamt rund 28.000. In Offenbach lebten im Jahr 2018 rund 4.600 Menschen über 65 Jahre in Armut.
Wie viele arme Menschen leben insgesamt in Frankfurt und Offenbach?
In Frankfurt war im Jahr 2018 jeder Achte auf Grundsicherung angewiesen. In absoluten Zahlen waren das ungefähr 95.000 Personen. In Offenbach wurden rund 20.000 Empfängerinnen und Empfänger von staatlichen Mindestsicherungsleistungen registriert.
Wie sind die Prognosen?
Die Zahlen der Grundsicherungsempfänger steigen kontinuierlich an. Dies lässt sich vor allem bei den Empfängern von Grundsicherung im Alter nachweisen. Die SGB II-Zahlen deuten in eine andere Richtung. Beachtet man aber, dass der Anstieg der atypischen Beschäftigung zu einer Vergrößerung des Problems der „working poor“ beigetragen hat, kann man verstehen, dass die relativen Armutsquoten nicht abnehmen, sondern tendenziell steigen.
Was hilft im Moment?
Ein wesentliches Element, um die verdeckte Armut zu minimieren, ist sachkundige Beratung. Die Seniorenberatung des Diakonischen Werks Frankfurt, Biazza Nordwest, leistet hier zum Beispiel gute Arbeit.
Was muss sich strukturell ändern?
Das „Bündnis für Soziale Gerechtigkeit in Hessen“ fordert in seiner Kampagne Änderungen in drei Bereichen. Erstens: Die gesetzliche Rente muss bedingungslos für alle das Existenzminimum übersteigen, unabhängig vom Erwerbsverlauf. Zweitens: Die gesetzliche Rente ist das Spiegelbild des Erwerbslebens. Deshalb die Forderungen: Eindämmung des Niedriglohnsektors, Abschaffung von Minijobs und steuerlichen Fehlanreizen, Aufwertung und bessere Bezahlung in der Erziehung und Pflege, die überwiegend von Frauen geleistet wird und Anreize zu mehr geschlechtergerechter Verteilung von familiärer Sorgearbeit. Drittens: Steigende Mieten fördern Altersarmut. Bezahlbaren Wohnungen, die ein selbständiges Wohnen im Alter ermöglichen, müssen her.
Was geschieht, wenn sich nichts ändert?
Politiker wissen, dass viele Menschen, die arm sind, nicht am politischen Diskurs teilnehmen. Sie erleben Stigmatisierungen und schweigen eher, als dass sie aktiv werden. Das hat aber Folgen für die Demokratie. Wenn Politikerinnen und Politiker sich nicht kümmern, haben diese Menschen keinen Grund, sie zu wählen. Dann haben Parteien, die nicht demokratisch sind, aber viel versprechen, leichtes Spiel.
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