„Ein guter Kapitalismus ist möglich“
Die Glasfassade der Evangelischen Akademie am Römerberg macht an diesem Abend auch für Vorbeilaufende transparent: Hier ist offenbar ein wichtiger Mensch zu Gast. Der große Vortragssaal ist voll, Köpfe sind gebannt nach vorne gerichtet.
Und genau so ist es. Die Akademie hat es geschafft, einen echten Superstar zu holen. Der Brite Paul Collier gehört zu den bedeutendsten Ökonomen unserer Zeit und hat erst vor wenigen Tagen ein viel beachtetes Werk vorgelegt: Seinem Werk „Sozialer Kapitalismus!“ hat der Oxford-Ökonom den großen und grundsätzlichen Untertitel „Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft“ gegeben.
Es ist ihm ernst. Ihm, der kein Linker ist (ein Rechter aber auch nicht). Paul Collier ist kein Kapitalismuskritiker, aber er kritisiert die Auswüchse des Kapitalismus unserer Zeit. Als Moderator ist Nicholas Jefcoat von der Deutsch-Britischen Gesellschaft mit dabei.
Colliers Diagnose: Es geht nicht nur um Verteilung zwischen Arm und Reich, viel gefährlicher sei der neue Riss durch das Fundament unserer Gesellschaft – zwischen den städtischen Metropolen und dem Rest des Landes, zwischen den meist urbanen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung.
Eine Ideologie des Einzelnen greife um sich, die auf Selbstbestimmung beharrt, auf Konsum abzielt und sich dabei von der Idee gegenseitiger Verpflichtungen verabschiedet. „Die Rottweiler-Gesellschaft“, so Collier, „verliert den Sinn für sozialen Zusammenhalt“ – und in dieses Vakuum stießen dann Populisten und Ideologen. Leidenschaftlich verurteilt der konservative Ökonom diese neue soziale und auch kulturelle Kluft. In seinem Manifest fordert er eine neue Ethik der Gemeinschaft.
Paul Collier füllt derzeit die großen Säle, Frankfurt ist da keine Ausnahme. Tags zuvor war er in Berlin und hat mit Robert Habeck, dem Bundesvorsitzenden der Grünen, diskutiert. Collier, Jahrgang 1949, ist ein charismatischer Redner, seine Mischung aus scharfer Analyse, sanftem britischem Humor und persönlichen Anekdoten sind so fesselnd, dass es ganz still ist im Raum.
Er entstammt einer deutschen Auswandererfamilie. Sein Großvater Karl Hellenschmidt zog vor dem Ersten Weltkrieg aus dem armen Ensbach bei Stuttgart ins reiche Bradford im nordenglischen Yorkshire. Heute ist es umgekehrt: Ensbach hat sich zu einer wohlhabenden bayerischen Gemeinde entwickelt, während Bradfords wirtschaftlicher Niedergang unübersehbar ist.
Mit dieser Anekdote beginnt Paul Collier das Buch – und auch den Vortrag in der Akademie. Er hat am eigenen Leib erfahren, wie die soziale Spaltung seine eigene Familie zerrissen hat. Während er in der Schule glänzte und eine Karriere als Wissenschaftler machte, zähle seine fast auf den Tag gleichaltrige Cousine Sue aus Sheffield bis heute zur Klasse der Abgehängten und Chancenlosen. Sie war als Teenager Mutter geworden, das habe ihren Weg geprägt.
Paul Collier hat früher für die Weltbank geforscht. Heute plädiert er für einen „nationalen Patriotismus“ als Alternative zur grenzenlosen Globalisierung, den er allerdings fern der Ideologie der Rechten verortet, was ihn von der Linken trotzdem entfernt. Er äußert in Buch und Vortrag die Befürchtung, dass die westliche Gesellschaft sich selbst zerstöre. Sein Credo lautet: Menschen müssten wieder mehr Gefühl für ihre Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen entwickeln, mit denen sie zusammenleben. Für Collier sind die wichtigsten sozialen Räume dafür die Familie, die Firma und der jeweilige Staat.
Paul Collier präsentiert auf der Bühne seine wichtigsten Thesen. Er wendet sich scharf gegen die Ideologie des ungehinderten Individualismus, dessen Freiheit heilig sein soll. Im Buch schreibt er dazu: „Dadurch, dass die Liberalen das gesellschaftliche Wirgefühl und den gutartigen Patriotismus, den es fördern kann, als irrelevant abtaten, verzichteten sie auf die einzige Kraft, die in der Lage ist, unsere Gesellschaften hinter erfolgversprechenden Lösungen zu einen.“
Der Ökonom setzt auf eine Gesellschaft, „die den Kapitalismus auf pragmatische Weise auf der Grundlage rationaler Wechselseitigkeiten steuert“, die „mit sich selbst in Frieden ist“. Er wünscht sich mehr Ethik in Gesellschaft und Wirtschaft. Ein guter Kapitalismus sei also möglich – auch wenn man sich immer vor Augen führen müsse, dass dieses Wirtschaftssystem nur den allerkleinsten Teil der Geschichte der Menschheit geprägt hat.
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