„Die Kirche muss chinasensibel werden“
Frau Mehlhorn, Sie waren neun Jahre in China als Pfarrerin tätig. Wie kam es dazu?
2012 wurde mir klar, dass es Zeit wird für einen Stellenwechsel. Ich war damals Pfarrerin in Rüsselsheim, und als ich einem chinesischen Freund von der ausgeschriebenen Stelle in Shanghai erzählte, sagte er: Shanghai ist gut für dich, mach das.
Sie wurden von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) entsandt. Aber sie durften gar nicht als Pfarrerin einreisen.
In China bekommen ausländische Geistliche, gleich welcher Religion, in dieser Funktion keine Arbeitsgenehmigung. Deswegen müssen sie einen anderen Weg finden. Wir haben das große Glück, dass die Stadt Hamburg in Shanghai wegen der Städtepartnerschaft ein Büro unterhält. Dort wurden wir – also mein katholischer Kollege und ich, wir sind ja eine ökumenische Gemeinde in Shanghai – als interkulturelle Projektmanager offiziell geführt.
Sie hatten viel Kontakt zu den Menschen, auch zu Chinesen. Sie haben sogar Mandarin gelernt.
Ja, soweit es mir möglich war. Wenn man 55 ist und nochmal eine neue Sprache lernt, die noch dazu so sehr anders ist, als alle bisher gelernten Sprachen, dann hat das Grenzen.
Aber wie war der Kontakt mit den Einheimischen? Religion ist in China ja eher eine Art Subkultur.
Das stimmt nicht so ganz. China hat einen offiziellen Weg der Religionspolitik. Es gibt ein Religionsministerium und alle registrierten Religionsgemeinschaften – das sind insgesamt fünf genehmigte Religionsgemeinschaften – unterstehen diesem Religionsministerium. Auf der einen Seite bin ich nicht als Geistliche eingereist, aber auf anderen Seite war ich akkreditiert als evangelische Pfarrerin dieser Gemeinde. „That’s China“ – sagt man dazu, wenn man China kennt.
Seit dem Ukraine-Krieg schauen wir in Deutschland auch kritischer auf unser Abhängigkeit von China. Wie eng sind die Verflechtungen?
Shanghai ist meinem Eindruck nach eine der größten deutschen Wirtschaftsmetropolen der Welt, wenn nicht die größte überhaupt. Alle wichtigen deutschen Unternehmen haben dort einen Sitz. Shanghai ist Chinas Tor zur Welt. Die Entwicklungen in China während der letzten Jahre sind nicht in jeder Hinsicht zu begrüßen. Das würde ich auch so sehen. Vieles wurde enger und autokratischer.
Wie wirkt sich das auf die christliche Gemeinde aus?
Naja, mit Corona ist sowieso alles anders geworden. Schon vorher hatten die Restriktionen allerdings zugenommen. Auch die Religionsgesetzgebungen wurden enger formuliert. Das habe ich ebenfalls zu spüren bekommen.
In den Kirchen hängen Videokameras.
Das ist so. Im gesamten öffentlichen Raum und in allen Einrichtungen hängen solche Videokameras. Alle Gottesdienste werden aufgezeichnet und damit auch ein Stück weit überwacht.
Fühlten sie sich überwacht?
Das ist eine Frage, die schwer zu beantworten ist, weil man als Ausländer in China natürlich andere Freiheiten hat als Einheimische. Ich habe eigentlich kein Blatt vor den Mund genommen, und was meine Aussagen oder meine Rede angeht, bin ich nie kritisiert worden. Manchmal bin ich kritisiert worden, was mein Verhalten angeht.
Was würden Sie uns denn empfehlen im Umgang mit China, politisch und menschlich?
Wir als Kirche könnten durch unsere ökumenische Verbundenheit Brücken bauen. Selbst da, wo es auf der politischen oder der wirtschaftlichen Ebene Grenzen gibt. Wir täten gut daran, in die Partnerschaft mit China verstärkt einzutreten und uns dort zu engagieren. Dafür werbe ich. Für uns als deutsche Gesellschaft ist allerdings erhöhte Vorsicht geboten. Zum einen, was die Wirtschaft angeht, das ist keine Frage. Auf politischer Ebene scheint es mir wichtig, darauf zu dringen, dass alles auf Augenhöhe läuft. Ansonsten ist natürlich die Menschenrechtsfrage eine, die auf politischer Ebene zu Recht thematisiert wird.
Ist die Menschenrechtsfrage auch für die Chinesinnen und Chinesen wichtig?
Meinem Eindruck nach spielt das nur für wenige Chinesen eine Rolle.
Wie haben Sie diese restriktive Corona-Politik erlebt oder sind sie vorher ausgereist?
Wirklich schwierig wurde es erst, nachdem die Omikron-Variante nach China kam und die Null-Covid-Politik das nicht mehr in Griff gekriegt hat. In Shanghai haben wir durch den Total-Lockdown dieses Frühjahr eine sehr, sehr unangenehme Zeit verbracht.
Sie sind ja in dieser Schließzeit im Mai 2022 ausgeflogen.
Das war letzten Endes geplant, denn meine neun Jahre in China waren vorbei. Was nicht geplant war, war, dass ich keine Konfirmation mehr durchführen konnte. Mein Abschiedsgottesdienst war online. Ich bin dann im Mai unter sehr reglementierten Bedingungen von einem fast menschenleeren Flughafen abgereist.
Leute wurden in ihren Büros festgehalten.
Ja, das gab's. Wenn sie im Moment des Lockdowns im Büro waren, mussten Sie dort bleiben. Ich war im Prinzip von Mitte März bis zu meinem Abflug total isoliert und konnte mit allen Leuten nur noch online kommunizieren.
Der Ärger über die Maßnahmen wurde so groß, dass viele Leute protestiert haben.
Schon die chinesischen Kaiser haben sich vor Protestwellen gefürchtet. In diesem riesigen, schwer zu regierenden Land war es immer eine Sorge, dass sich aus regionalen Aufständen landesweite Unruhen entwickeln. Das war auch früher schon für Regierungen ein Grund, die Politik zu ändern, und so ist es halt auch jetzt. Zumal es ja weitere Gründe für das Umsteuern in der Coronapolitik gab.
Also bewirkt ein Aufstand doch etwas?
Man darf nicht denken, ein solches Regime wäre nicht kritisierbar. Kritik findet durchaus statt. Nur hat das eine andere Grundstruktur als in einer Demokratie.
Was heißt: andere Grundstruktur?
Wenn es zu größeren Unruhen kommt, gibt es in China durchaus interne Diskussionsprozesse, auch wenn sie nicht offiziell und demokratisch und auf Mitbestimmung angelegt sind. Man darf nicht denken, dass dort niemand den Mund aufmacht. Auch in dieser Hinsicht sollten wir China etwas differenzierter wahrnehmen.
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