„Die evangelischen Theologen in der Paulskirche waren überwiegend links“
Sie haben die Möglichkeit, sich das Gespräch von Antje Schrupp mit Jürgen Telschow im Podcast anzuhören oder es zu lesen.
Herr Telschow, was haben Sie über die Theologen in der Nationalversammlung herausgefunden?
Zunächst einmal ist es erstaunlich, dass unter den rund achthundert Mitgliedern der Paulskirchenversammlung 56 studierte evangelische Theologen waren. Allerdings nur 14 in kirchlichen Ämtern. Nun muss man sehen, diese Versammlung ist ja zustande gekommen durch Wahlen. Man musste sich also in seiner Region vorher schon profiliert haben, um überhaupt eine Chance als Kandidat zu haben. Es scheint auch so, als wenn die evangelische Kirche insgesamt kein großes Interesse daran gehabt hat, dass ihre Leute in die Versammlung gewählt werden. Anders als bei der katholischen Kirche.
Woraus schließen Sie das?
Die katholische Kirche war mit etwa der Hälfte der Zahl der evangelischen Theologen in der Paulskirchenversammlung vertreten, aber darunter waren allein neun Persönlichkeiten, die zu der Zeit Bischöfe waren oder dann in den nächsten Jahren ins Bischofsamt kamen. Das signalisiert ganz deutlich, dass die katholische Kirche Einfluss nehmen wollte auf die Beratungen und da hochkarätige Personen hingeschickt hat. Auf der evangelischen Seite war das anders: Es entsprach nicht dem monarchistischen Denken der evangelischen Kirche und der engen Verbindung von Thron und Altar, dass man in so eine Revoluzzerversammlung Leute entsendet, um da mitzugestalten.
Wer waren dann die evangelischen Theologen, die trotzdem dort waren?
Unter diesen evangelischen Theologen waren einige, die sich auch vorher schon politisch betätigt hatten, oder die sich ganz explizit auch unter politischen Aspekten geäußert haben. Eine interessante Persönlichkeit ist zum Beispiel der Pfarrer Carl Friedrich Kotschy aus Ustron in Polen. Das war ein Mann, der als Lutheraner im habsburgischen Österreich, wozu Südpolen damals gehörte, Diskriminierung zuhauf erfahren hatte, und der das in die Paulskirchenversammlung mitgebracht hat. Er ist für die strikte Trennung von Staat und Kirche eingetreten.
Gegen die Mehrheitsmeinung der evangelischen Kirche von damals?
Ja, gegen die Mehrheitsmeinung der evangelischen Kirche. In dem Zusammenhang ist vielleicht auch noch eine andere Zahl interessant: Es gab ja noch keine politischen Parteien, sondern es trafen sich Gruppierungen in Gasthäusern, Cafés und dergleichen. Und die hatten natürlich unterschiedliche politische Ideale.
„Links“ und „Rechts“ gab es in der Paulskirchenversammlung aber schon!
Ja, darauf will ich hinaus. Kernfragen waren „Republik oder parlamentarische Monarchie“, eine andere Kardinalfrage war, wie die Spitze des gedachten Bundes aussehen soll, ob das ein Kaiser ist oder nicht. Ganz eindeutig lässt sich eine Zuordnung in „links“ und „rechts“ kaum machen, und es haben sich diese Klubs teilweise auch wieder geteilt und Leute sind auch gewechselt. Aber wenn man es mal ganz knapp sagt, dann kann man eine linke und rechte Mitte und linke und rechte Flügel unterscheiden, die auf der linken Seite im Zweifel noch stärker für die Republik waren, und auf der anderen Seite alles abwerten, was mit Parlamentarismus zu tun hat.
Und wie haben sich die Theologen dort einsortiert?
Wenn man sich das bei den evangelischen Theologen anschaut, waren das insgesamt 56. Von 18 konnte ich die Zugehörigkeit nicht feststellen, sie waren nicht fest zu verorten, zum Teil auch, weil sie sich nicht zu solchen Gruppierungen gehalten haben. Von den restlichen waren dann sieben Abgeordnete auf dem ganz linken Flügel, also bei den radikaleren Reformern. Darunter waren zwei Pfarrer, einer war der Kotschy aus Ustron. Die linke Mitte umfasste 16 Abgeordnete, die rechte Mitte oder mittlere Rechte, bestand aus 14 Personen, und der rechte Flügel aus einer.
Das heißt, die evangelischen Theologen in der Nationalversammlung waren überwiegend „links“, teilweise sogar „linksradikal“, während „rechtsradikal“ eigentlich nur einer war.
Ja.
Das ist erstaunlich, weil die evangelische Kirche insgesamt ja doch wahrscheinlich nicht links war, oder?
Nein, die war staatshörig.
Die Frankfurter Gemeinde hatte aber ihre Kirche schnell für die Nationalversammlung zur Verfügung gestellt. Gewisse Sympathien müssen ja doch dagewesen sein.
In der Frankfurter Kirche, vor allem in der lutherischen Gemeinde, ist die Paulskirchenversammlung in Ansprachen und Predigten begeistert begrüßt worden, aber zugleich mit der großen Sorge, es könnte aus dem Ruder laufen, es könnte Gewalt geben und Unordnung in der Gesellschaft. Zurückhaltender waren die Reformierten. Die Reformierten fürchteten ein Stück um ihre Privilegien.
Hatten die denn so viele Privilegien?
Na ja, sie hatten stärkere Freiheit und mehr Unabhängigkeit als die Lutheraner. Bei den Lutheranern war bis 1820 faktisch der Rat der Stadt so was wie der Kirchenvorstand gewesen. Danach haben sie zwar einen eigenen Kirchenvorstand gehabt, aber kein Geld.
Das heißt, die lutherische Gemeinde war mit der Stadt so eng verbandelt, dass sie gar keine Unabhängigkeit hatte, und die Reformierten wollten sich davor schützen?
Die Reformierten waren auf der einen Seite seit der Reformationszeit diskriminiert, aber auf die Art und Weise hatten sie auch Freiheiten, die die Lutheraner nicht hatten, ja.
Interessant, dass man das auch so betrachten kann.
Jede Medaille hat wohl zwei Seiten. Die Lutheraner waren aber die deutliche Mehrheit. Und unter ihnen war die Begeisterung für die Ziele der Paulskirchen-Versammlung groß. Die Lutheraner haben 1849 sogar über eine völlig neue Kirchenordnung beraten. Die Veränderungsbestrebungen schlugen sich also auch in den Aktivitäten der lutherischen Gemeinde nieder.
Nach dem Motto, wenn der Staat sich demokratisiert, dann machen wir das auch?
Ja, wobei man sagen muss: Die großen Themen der Versammlung waren die deutsche Einheit, Freiheit, dokumentiert in den Grundrechten, aber auch die Trennung von Staat und Kirche war eines der großen Themen. Und in diesem Sinne, eben der Trennung von Staat und Kirche, versuchte die lutherische Gemeinde für sich in Frankfurt eine neue Ordnung zu bekommen.
Wie war es denn überhaupt zu der engen Verflechtung mit der Stadt gekommen?
In der Reformationszeit hatte sich nicht in der Stadtgesellschaft eine lutherische Gemeinde gebildet, sondern der Rat, der sich auch für das Seelenheil der Bürger verantwortlich fühlte, hat evangelischen Gottesdienst zugelassen. Er hat geregelt, dass es evangelische Gottesdienste geben durfte und welche Kirchen dafür in Anspruch genommen werden konnten. Eine Trennung von Staat und evangelischer Kirche war überhaupt nicht in den Köpfen drin. Erst nach der napoleonischen Zeit gab es Selbstständigkeitsbestrebungen. Das war auch die Zeit, wo man anfing, Vereine anfing zu gründen, Gesellschaften und so weiter.
Was hat man sich denn in der Nationalversammlung genau unter Trennung von Staat und Kirche vorgestellt? Das ist ja heute so ein Schlagwort, aber es wird selten ganz klar definiert. Wie wollte man das trennen?
Es gab ja das Vorbild Frankreich, wo Trennung von Staat und Kirche heißt, dass es zwei völlig getrennte Organisationen sind und es keine Förderung der Kirchen durch den Staat gibt. Darauf wollten die Radikalen auch in der Paulskirche hinaus. Dort saßen ja auch Kirchengegner, die von den Kirchen sowieso nichts hielten, und sie wollten keinerlei Förderung der Kirche durch den Staat. Aber das war im Grunde genommen zu der Zeit völlig unrealistisch. Angesichts der engen Verwobenheit von Staat und Kirche in den protestantischen Staaten war das auf die Schnelle überhaupt nicht durchzudenken, geschweige denn durchzusetzen. Wie natürlich alles, was in der Paulskirchenversammlung gefordert und beschlossen worden ist, eigentlich absolut unrealistisch war.
Aber die Leute sind ja auf die Idee gekommen. Zumindest vorstellbar war es offensichtlich.
Ja. Ein krasses Beispiel sind die badischen Revolutionäre: Baden war, wenn man von Berlin absieht, der Ort, wo am stärksten aufbegehrt wurde. Und es gab mit Friedrich Hecker und Gustav Struve zwei Revolutionäre, die auch sehr gewandte Redner waren, zwei Anführer von revolutionären Gruppen in Baden. Beim Frankfurter Vorparlament war Hecker mit fast sechzig Leuten vertreten, und sie haben radikale Forderungen im Hinblick auf Republik gehabt. Aber die liberal-demokratische Mehrheit hat sich darauf nicht eingelassen. Daraufhin sind sie ausgezogen und haben im April 1848 in Südbaden den Aufstand probiert. In drei größeren Gruppen sind sie von Konstanz bis Lörrach losmarschiert, um in Karlsruhe den Großherzog abzusetzen. Und sie haben gedacht, wenn sie jetzt losziehen, würde die Bevölkerung in Massen mitmachen. Aber das passierte nicht. Sie haben auch gedacht, wenn sie tatsächlich mit dem Militär konfrontiert werden, würde das Militär zu ihnen überlaufen. Auch das passierte nicht. Sie sind innerhalb einer Woche gescheitert, weil sie zwar nicht die revolutionäre Stimmung, aber die Bereitschaft, dafür einzutreten, völlig überschätzt haben.
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind zwar viele evangelische Theologen in der Versammlung gewesen, aber nicht offiziell von der lutherischen Kirche entsandt, sondern aus eigener Initiative. Was waren das für Leute? Wo kamen sie her, wenn nicht aus der Kirchenhierarchie?
Das waren zum Beispiel Professoren. Ernst Moritz Arndt war ja eigentlich evangelischer Theologe, hat sich dann aber nach Anfängen als Vikar dafür entschieden, sich doch mehr mit Geschichte zu beschäftigen. Er war einer, der gegen Napoleon aufbegehrt hat und damals Nationaldichter wurde, mit Liedern, mit Gedichten, mit vielfältigen Veröffentlichungen, aber immer unter politischem Druck. Er kam mal dahin, mal hierhin, hat mal einen Lehrauftrag bekommen, musste dann aber wieder weg aus politischen Gründen. Er führte also ein Wanderleben bis er schließlich eine Professur in Bonn bekam. Andere Theologen in der Nationalversammlung waren Lehrer, Gymnasiallehrer, auch Rektoren oder Direktoren von Gymnasien. Eine ganze Reihe von Leuten war journalistisch oder schriftstellerisch tätig.
Es waren also letztlich einfach politisch Interessierte.
Die Nationalversammlung fiel ja nicht aus heiterem Himmel. Schon seit dem Wartburgfest 1817, wo die Burschenschaften ihr Programm verabschiedet haben, gab es ein ständiges Aufbegehren. Es gab immer wieder Gruppen, die irgendwo, wie es so schön heißt, „Unruhe stifteten“. Es gab trotz Pressezensur Zeitschriften und vielfältige Veröffentlichungen, für die die Leute dann manchmal jahrelang ins Gefängnis kamen. Etwa zwanzig Mitglieder der Paulskirchenversammlung hatten vorher wegen demokratischer Umtriebe im Gefängnis gesessen. Es gab also ein Milieu, wo man eben auch als Schriftsteller tätig war, um die Dinge zu verändern. Der eine oder andere Arzt gehörte auch dazu. Also sowohl die evangelischen Theologen wie auch ein Großteil der anderen Mitglieder der Paulskirchenversammlung waren Leute, die sich schon vorher mit den Zuständen nicht zufriedengegeben hatten. Allerdings gab es auf der anderen Seite auch hohe Staatsbeamte, etwa zwei preußische Minister in der Paulskirchenversammlung. Auch der preußische Gesandte in London war Mitglied.
Und es gab auch katholische Abgeordnete, die zwar nur halb so viele waren wie die evangelischen, aber enger an der Kirche. Was hatten die für eine Agenda?
So ganz eindeutig ist das auch nicht. Es gab in ihren Reihen laute Stimmen für die Trennung von Staat und Kirche.
Von den katholischen Abgeordneten?
Ja. Obwohl die katholische Kirche auch politische Macht hatte, etwa in dem großen habsburgischen Bereich oder in Bayern. Aber sie wollten frei sein von staatlicher Einflussnahme. Es gab aber auch da warnende Stimmen, die sagten: Überlegt euch, was das bedeutet! Einer der evangelischen Theologen plädierte für die Trennung von Staat und Kirche, aber in einem geordneten, guten Miteinander.
Also nicht so strikt wie in Frankreich.
Ja, im Sinne von zwei Großorganisationen, denen es um dieselbe Bevölkerung geht, und die harmonisch zusammenarbeiten. Aber es gab keine einheitliche Linie der Theologen. Im Prinzip litt ja die Paulskirchenversammlung generell unter Zersplitterung. Auch wenn es diese Clubs gab, waren die Abgeordneten doch Individualisten. Es waren ganz überwiegend Männer mitten im Leben, die zu einem erheblichen Teil beruflich Erfolg hatten. Das waren Beamte, höhere Beamte sogar, Ritter, Gutsbesitzer, ein paar Unternehmer. Und evangelische Theologen. Da ist jeder ein kleiner Papst gewesen. Von daher kann man nicht von Strömungen oder so sprechen. Die meisten, denke ich, waren sich selbst verpflichtet.