Der Islam darf den Staat mitprägen
Religion kann dem Staat gefährlich werden; „Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen”, heißt es in der Bibel, und die Wahrheiten einer Religion reichen tiefer und weiter als jede staatliche Ordnung: Was ist schon der Staat gegenüber dem Reich Gottes, und fordert nicht die Bergpredigt einen radikalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel?
Religion ist außerdem nichts Statisches, eine Heilige Schrift ist offen für Interpretation, sie kann wortwörtlich im Sinne einer zügellosen Missionstätigkeit gelesen werden oder historisch-kritisch als Friedensdekret. Religion ist damit im Prinzip ein feuriges und machtvolles Phänomen, das vielerlei Gestalt anzunehmen und zu mutieren vermag. Sie kann zu zivilem Ungehorsam aufrufen und sogar staatliche Integrität ernsthaft in Frage stellen – wie im Nationalsozialismus und in Zeiten der DDR.
Der Staat ist Menschenwerk, er steht nicht über der Religion
Nein, der Staat steht nicht über der Religion, er ist Menschenwerk und verfügt über keine höhere Legitimation. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes mahnen in der Präambel, dass sich staatliches und politisches Handeln vor „Gott” zu verantworten haben. Der Staat darf den Glauben nicht beurteilen; die Gedanken sind frei. Religiöse Gruppen dürfen am Patriarchat festhalten, an der Vielehe oder an der Homophobie, sie dürfen sogar den Staat ablehnen. Das allein macht sie noch nicht zu verfassungsfeindlichen Organisationen.
Aufgabe des Staates ist es aber, im demokratischen Zusammenwirken die Rahmenbedingungen für das Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Im Grundgesetz ist zum Beispiel die Religionsfreiheit festgelegt, die zum Respekt gegenüber anderen Religionen nötigt, und die Würde des Menschen steht kompromisslos ganz obenan. Mit diesen hohen Prinzipien kann gerade in einer multikulturellen und -religiösen Landschaft der gesellschaftliche Frieden erhalten werden. Nicht umsonst hat der Staat auch das Gewaltmonopol.
Die Ausübung des Glaubens findet daher in den Grundprinzipien und Gesetzen des Staates ihre Grenzen. Glaubenssätze legitimieren nicht, Andersdenkende zu bedrängen oder einen Umsturz zu betreiben, und auch Minderheiten genießen Schutz. Allerdings sind Recht und Gesetz dynamisch, sie können und müssen den Erfordernissen und Realitäten immer wieder angepasst werden. Wo also Glaubenssätze zum Konflikt mit der bestehenden Ordnung führen, kann ein konstruktiver Prozess in Gang kommen, an dessen Ende womöglich neues Recht gesetzt wird, mit dem sich dann alle erst einmal zu arrangieren haben. So geschehen zum Beispiel beim Abtreibungsparagrafen oder im Gesetz zur rituellen Beschneidung von Jungen.
Nicht in den Modus der Gefahrenabwehr gehen
Die christlichen Großkirchen haben bei der Gestaltung des bestehenden Rechts intensiv mitgewirkt und entsprechende Erfahrung, islamische Gruppierungen sind diesbezüglich noch im Nachteil. Nicht allen sind die demokratischen Gepflogenheiten schon in Fleisch und Blut übergegangen, es fehlt ihnen und dem Staat noch am gegenseitigen Vertrauen, und ihre Traditionen und Vorstellungen beginnen erst, Eingang in das bestehende Rechtssystem zu finden.
Das ist aber kein Argument dafür, aus Angst und Abgrenzung in den Modus der Gefahrenabwehr zu gehen, im Gegenteil: offener Diskurs ist angesagt. Muslime und Musliminnen sind nun einmal da, und sie zu integrieren heißt auch, sie wie die Christen an der Wertebildung zu beteiligen, mit ihnen über die Berücksichtigung ihrer kulturellen und religiösen Traditionen im Rechtssystem zu verhandeln und ihnen eine gute Vereinbarkeit ihres gelebten Glaubens mit dem säkularen Staat zu ermöglichen – Kleidung inklusive.