Das Integrationsparadox: Alles wird besser, aber trotzdem sind alle unzufrieden
Als sich Frauen noch mit Kinder, Küche und Kirche begnügten, war für Männer die Welt in Ordnung. Probleme tauchten erst auf, als die „bessere Hälfte“ nicht mehr kuschen, sondern mitreden und mit entscheiden wollte: Je emanzipierter die Frauen, desto mehr zeigen sich Konflikte, die ausgetragen werden müssen. So ähnlich sei es auch bei der Integration von Migrantinnen und Migranten, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani: Die erste Einwanderergeneration war gefügig und still , die zweite habe bereits „ein Stück vom Kuchen verlangt“. Die dritte Generation heute wolle „mitbestimmen, nach welchem Rezept wir unsere Gesellschaft backen“.
Die vielen Auseinandersetzungen um das Thema Migration seien also ein gutes Zeichen, denn sie zeigen, dass der Integrationsprozess in vollem Gange ist. „Soziale Fortschritte sind ohne Konflikte nicht möglich“, betonte El-Mafaalani bei einer Veranstaltung in der Evangelischen Akademie Frankfurt. Der Autor des Buches „Das Integrationsparadox – Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ hält Konflikte für „eine grundlegende Kategorie und zentrale Triebfeder moderner Gesellschaften“. Jede Gruppe von Menschen, die sich emanzipiert und ihre Gleichberechtigung erreicht, bringe andere Themen ein und stelle die bisher gültigen Regeln in Frage. Es „trotzdem am Tisch auszuhalten und die Konflikte auszutragen“ sei die Herausforderung offener Gesellschaften.
El-Mafaalani war bis vor kurzem Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Integrationsministerium, hat also nicht nur wissenschaftlich geforscht, sondern gründet seine Thesen auch auf praktische Erfahrungen. Im Juli übernahm der 40-Jährige an der Universität Osnabrück den Lehrstuhl für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft. Gerade in Bezug auf Bildung und Schulsystem mache die Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland „signifikante Fortschritte“. Menschen, die vor vier Jahren zugewandert sind, können sich oft besser schriftlich in Deutsch ausdrücken, als Menschen, die vor 30 Jahren kamen – auch das ein Paradox: „Je später die Einwanderung, umso besser das Deutsch.“ Jugendliche mit migrantischen Namen hätten inzwischen auch deutlich mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt als früher.
Alles wird also besser, aber trotzdem sind alle unzufrieden? Möglich ist das. Früher hätten bei politischen und kulturellen Entscheidungen 10 Prozent der Bevölkerung mitgemacht, heute seien es 60 Prozent. Ein Fortschritt, der zugleich aber auch bedeute: Wer jetzt immer noch nicht mitreden kann, ist selber schuld. „Das hat die Stimmung verschlechtert“, so El-Mafaalani. Für umso wichtiger hält es der Migrationsexperte, eine fruchtbare Streitkultur zu etablieren. Demokratische Zusammenarbeit auf Augenhöhe sei „harte Arbeit“. Denn wenn Diskriminierung abnimmt, steigt gleichzeitig auch die Sensibilität für Diskriminierung – noch so ein Paradox.
Weniger optimistisch zeigte sich bei der anschließenden Diskussion Susanne Schröter. Die Direktorin des „Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam“ zweifelte, ob bei vielen überhaupt eine Bereitschaft zu produktiven Auseinandersetzungen besteht. Es gebe identitäre Bewegungen, die auf Andersdenkende nur schießen, und der Diskurs sei stark von Lobbygruppen geprägt. „Ich bin damit einverstanden, dass wir streiten müssen“, so Schröter, „es ist aber auch möglich, dass es zu einem kompletten Verfall kommen wird.“ Viele Menschen würden nicht mehr öffentlich sagen, was sie denken, die Echokammern im Internet machten es schwer, ein Minimum an Gemeinsamkeit zu formulieren: „Ich sehe keinen gemeinsamen Strang, an dem man ziehen kann.“
Nicht ganz so schwarz sieht der FDP-Abgeordnete im Hessischen Landtag, Yanki Pürsün, allerdings bereitet dem Sprecher für Soziales, Gesundheit und Integration durchaus Sorgen, dass zwar „die Politik ihr Ohr am Bürger hat, aber fraglich ist, ob der Bürger auch ein Ohr für die Politik besitzt“. Nur wenige Bürgerinnen und Bürger nutzten die ihnen im Hessische Landtag stets offen stehende Tür, und in Frankfurt sei über die Hälfte der Stadtverordneten bereits im Seniorenalter. Das Buch von Aladin El-Mafaalani habe er mit Begeisterung gelesen“ und könne nachvollziehen, was darin steht. Politiker hätten allerdings eine andere Perspektive und schlügen sich vor allem mit der Frage herum: „Wo kommt das Geld her und wo geht es hin.“
Von Seiten der Parteipolitik erwartet Aladin El-Mafaalani aber auch ohnehin keine Zukunftsvisionen: „Die Parteien sind froh, wenn sie selbst eine Zukunft haben.“ Vielmehr sei die Zivilgesellschaft, also Gewerkschaften, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, Institutionen und Initiativen, gefragt, wenn es darum geht, Visionen für die zukünftige Gesellschaft zu entwickeln.
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