Darf die Kirche gegen die AfD sein?
Äußerungen der evangelischen Kirche zu gesellschaftspolitischen Themen haben eine lange Tradition und gründen sich von ihrem Prinzip her auf Stellungnahmen der alttestamentlichen Propheten zu gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen.
Es handelt sich dabei aber nicht in dem Sinn um politische Statements, dass die Propheten im allgemeinen Meinungsspektrum eine politische Position einnehmen und diese durch ihr prophetisches Amt verstärken. Vielmehr müssen die Äußerungen als theologische Gutachten gewertet werden. Die Propheten argumentieren also nicht politisch, sondern von einer theologischen Warte her und weisen mit diesem Maßstab auf Fehlentwicklungen hin.
Um ein Beispiel zu nennen: Zu den religiösen (!) Verpflichtungen in der hebräischen Bibel gehörte die Fürsorge für Witwen und Waisen. Wenn diese durch das stark patriarchal geprägte Recht benachteiligt werden und de facto der Willkür unterliegen (indem zum Beispiel ihre schwache Rechtsposition ausgenutzt oder ihr Besitz von ihren Vormündern angeeignet wird), treten Propheten regelmäßig auf den Plan und mahnen die Herrschenden, die religiösen Richtlinien zu wahren. Der Prophet äußert also eine religiöse Stellungnahme, die aber natürlich politische Konsequenzen haben muss.
Auch heute verstehen sich die Kirchen nicht als politische Parteigänger, die sich mit genuin politischen Argumenten in gesellschaftliche Diskussionen einmischen. Sie tragen aber mit ihren religiösen Argumenten zur gesellschaftlichen Meinungsbildung bei. Diese Aufgabe hat der Staat den Kirchen nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus ausdrücklich zugewiesen, und sie entspricht auch dem, was den Kirchen unabhängig davon in ihrem Inneren am Herzen liegt, nämlich am Maßstab des Evangeliums von Jesus Christus die gesellschaftlichen Entwicklungen zu verfolgen und auch zu kommentieren.
Dies geschieht durch den Kirchen offiziell zugewiesene Plätze in Entscheidungsgremien wie natürlich auch in öffentlichen Stellungnahmen, aber immer mit einer theologischen Expertise. In der Vergangenheit haben sich die Kirchen öffentlich zum Beispiel zur Wiederbewaffnung oder zur Abtreibung geäußert. Äußerungen mit politischer Relevanz finden sich auch regelmäßig in den so genannten „Denkschriften“ der Evangelischen Kirche in Deutschland.
In Wahrnehmung dieses Wächteramtes haben sich Kirchenvertreter und -vertreterinnen, darunter ich selbst, aus theologischer Perspektive auch zur AfD geäußert. Wir sehen in der Tat in einer ganzen Reihe von Äußerungen von Repräsentantinnen und Repräsentanten dieser Partei ein rassistisches Menschenbild zum Ausdruck kommen, das dem biblischen in keiner Weise entspricht, und wir sagen ebenso, dass Homophobie und Islamfeindlichkeit nicht unseren christlichen Maßstäben genügen, wenn wir das Gesagte zum Beispiel an der durch Jesus praktizierten Nächstenliebe messen.
Es kann nach alledem nicht verwundern, dass „Evangelisches Frankfurt“ theologische Stellungnahmen verbreitet, zumal dem Christentum ja eigen ist, nicht nur im stillen Kämmerlein praktiziert zu werden, sondern die Gesellschaft mit prägen zu wollen. Nicht umsonst bezieht sich „christlich“ nicht nur auf Glaubenssätze, sondern auch auf den Umgang miteinander.
Dabei ist zu beachten: Die Stimme der offiziellen evangelischen Kirche ist eine christliche Stimme (es gibt auch andere), und jede Christin und jeder Christ kann und soll diese Äußerungen am Zeugnis der Heiligen Schrift selbst überprüfen. Insofern darf man die in „Evangelisches Frankfurt“ gelesenen Äußerungen als (einen!) Beitrag zur eigenen Meinungsbildung lesen.