„In der Kirche war die Begeisterung für die Nationalversammlung groß“
Sie haben die Möglichkeit, sich das Gespräch von Antje Schrupp mit Pfarrerin Andrea Braunberger-Myers im Podcast anzuhören oder es zu lesen.
Frau Braunberger-Myers, Sie sind als Pfarrerin der evangelischen Paulsgemeinde gewissermaßen die Nachfolgerin von denen, die 1848 beschlossen haben, dass die Paulskirche Veranstaltungsort für die Nationalversammlung sein kann. Wie kam es denn dazu, dass die Kirche sich da als Kooperationspartner zur Verfügung gestellt hat?
Braunberger-Myers: Es gab eine schriftliche Anfrage der Vorbereitenden der Nationalversammlung, es ging schlicht darum, einen Ort zu finden, der groß genug ist, um die Abgeordneten unterzubringen. Kurz vorher war die Frankfurter Paulskirche fertig geworden, sie ist 1833 eingeweiht worden, und war das größte Gebäude, das man finden konnte. Man muss dazu wissen, dass es in Frankfurt glühende Befürworter dieser demokratischen Bewegung gab, und eben auch in der evangelischen Kirche. Es gab damals, anders als heute, nur eine Gemeinde in Frankfurt, mit dem Predigerministerium aus Pfarrern und Ehrenamtlichen, die alle von der Stadt eingesetzt waren. Und die haben – das lässt sich am Briefwechsel, der im Institut für Stadtgeschichte vorhanden ist, nachvollziehen – innerhalb von wenigen Tagen diese Entscheidung getroffen, es hat, glaube ich, nur drei oder vier Tage gedauert. Heutzutage hätten wir wahrscheinlich viel länger gebraucht.
Diese Begeisterung überrascht etwas, denn spontan würde man doch vermuten, dass die Kirche nicht gerade zu den Vorreitern der Demokratie gehört. Später, denken wir nur an die Weimarer Republik, waren die Protestanten doch sehr zurückhaltend, was Reformen oder gar revolutionäre Prozesse angeht. War das im 19. Jahrhundert noch anders?
Zu dem Zeitpunkt war es anders, weil es unter der Frankfurter Bürgerschaft eine große Begeisterung für diesen demokratischen Aufbruch gab. Später, als es dann die September-Aufstände gab, ist das Predigerministerium teilweise auch wieder zurückgerudert.
Bei diesen Aufständen ist es auch zu Gewalt gekommen.
Ja. Und dann haben einige ihre Entscheidung auch teilweise bereut. Das zieht sich eigentlich durch, durch diese Geschichte der Paulskirche. Sie haben eben die Weimarer Zeit erwähnt, in diese Zeit fiel ja das 75. Jubiläum der Paulskirchenversammlung. Da hatten die städtischen Gremien vor, das in der Paulskirche zu feiern, aber der Kirchenvorstand wollte das nicht. Es sollte zu diesem Anlass auch eine Plakette für Friedrich Ebert an die Paulskirche gehängt werden, auch das wollte der Kirchenvorstand nicht.
Heute gehört die Paulskirche ja nicht mehr zu Ihrer Gemeinde, sondern Sie nutzen die Alte Nikolaikirche am Römerberg. Wie ist Ihnen die Paulskirche denn abhanden gekommen?
Es gibt eine Frankfurter Besonderheit, dass alle historischen Innenstadtkirchen, sei es evangelisch oder katholisch, als Gebäude der Stadt Frankfurt gehören, und die Gemeinden nutzen sie, ohne Einschränkungen und auch ohne irgendeine Befristung. Das geht zurück auf die Säkularisierung der kirchlichen Gebäude Anfang des 19. Jahrhunderts. Das bedeutet, die Paulskirche gehörte auch 1848, als die Versammlung dort tagen wollte, als Gebäude bereits der Stadt. Die Paulskirche blieb aber eine ganz normale Gemeindekirche, bis sie bei der Bombardierung der Frankfurter Altstadt im März 1944 abgebrannt ist. Nach dem Krieg war die Paulsgemeinde zahlenmäßig sehr dezimiert, es lebte ja kaum jemand in der Altstadt, und hatte verschiedene vorübergehende Orte, wo sie ihren Gottesdienst gefeiert hat – eine Holzbarracke, wo heute etwa das Karmeliterkloster steht, oder mal eine Ladenkirche am Weckmarkt, solche Dinge. 1948 stand dann das nächste Jubiläum der Nationalversammlung an, das hundertjährige Jubiläum. Die damalige Stadtregierung unter der Leitung von Oberbürgermeister Walter Kolb hatte ein starkes Interesse daran, dieses Jubiläum zu feiern, als großen demokratischen Neuanfang nach den Gräueln der Nazi-Zeit. Nach der Feier des 100. Jubiläums und nach dem Wiederaufbau der Paulskirche, den die Stadt Frankfurt sehr massiv betrieben hat, sollte die Kirche eigentlich zurück in die Nutzung der Paulsgemeinde übergehen. Aber nachdem das Jubiläum dann fertig gefeiert war, kam der Gedanke bei der Frankfurter Stadtregierung auf, die Paulskirche als einen Gedenkort der Demokratie weiter in Nutzung zu behalten.
Die Kirche ist ja dann auch so wieder aufgebaut worden, dass sie jetzt innen gar nicht mehr wie eine Kirche aussieht, sondern eher wie ein Parlamentssaal.
Genau. Es gab ja Überlegungen, dass Frankfurt vielleicht Bundeshauptstadt werden sollte, und man hat die Kirche auch in dieser Weise wieder aufgebaut mit dem Gedanken, dass das womöglich der Bundestag werden könnte. Aber dann war das Jubiläum gefeiert, Frankfurt war nicht die Bundeshauptstadt geworden, sondern Bonn. Und dann wollte man diese Kirche als einen Gedenkort der Demokratie erhalten. Es kam also zu neuen Verhandlungen mit dem evangelischen Gemeindeverband, und das Ergebnis war ein neuer Dotationsvertrag im Jahr 1953. Das ist derjenige, der bis heute gilt. Darin bekommt die Stadt Frankfurt vom evangelischen Gemeindeverband die dauerhafte Nutzung der Paulskirche übertragen, und dafür hat der evangelische Gemeindeverband eine ganze Reihe von Zusagen bekommen, unter anderem den Wiederaufbau der Katharinenkirche und des Dominikanerklosters mit Heiliggeistkirche, den Wiederaufbau der Dreikönigskirche, ein Grundstück für die Weißfrauenkirche und noch ein paar andere Dinge. Die Paulsgemeinde bekam die Alte Nikolaikirche als Gottesdienstort zur Nutzung. Sie ist im Januar 1949 in die Alte Nikolaikirche eingezogen, Ende Januar gab es den ersten Gottesdienst dort.
Wie sehen Sie denn das Verhältnis zwischen einem theologisch-religiösen Verständnis der Welt und einem demokratischen? Gibt es da Reibungspunkte?
Wir haben von Gott als Individuen aber auch als Kirche alle Freiheit mitbekommen, die man sich nur wünschen kann. Und mit dieser Freiheit, die wir bekommen haben von Gott, die wir uns gar nicht erstreiten mussten, sondern die wir von vorneherein haben, müssen wir verantwortlich umgehen. Und da ist das demokratische System meiner Einschätzung nach immer noch das allerbeste.
Und seine Prinzipien sind damals in der Paulskirche erfunden worden.
Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Religionsausübung, Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Das alles ist in der Paulskirche diskutiert worden. Und dann eben auch in die Worte der Verfassung formuliert worden. Einige Punkte, die damals verabschiedet wurden, sind in die Weimarer Verfassung eingegangen aber eben auch in unser heutiges Grundrecht. Bis auf fast identische Formulierungen hinein.
Aber tatsächlich war die evangelische Kirche dann mehrheitlich eher monarchistisch und doch eigentlich sogar noch nach 1945 eher zögerlich, was die Anerkennung von einer parlamentarischen, freiheitlichen Demokratie angeht. Der wirkliche demokratische Wandel kam doch eigentlich erst nach 1968. Warum hat das denn so lange gedauert?
Kirche ist immer ganz genau ein Abbild der Gesellschaft. Leider ist das so. Und es hat ja nun in den fünfziger Jahren eine ganze Weile gedauert, bis man sich in Deutschland freigeschwommen hat von dem ganzen Nazitum. Ich würde die Veränderung aber schon ein bisschen vorher ansetzen, nicht erst 68, sondern bei der Diskussion um die Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren. Ich glaube, dass an dieser Stelle eine Initialzündung auch bei der evangelischen Kirche gekommen ist: Wollen wir das wirklich, dass es eine Bundeswehr gibt, dass es eine Wiederbewaffnung Deutschlands gibt? An dieser Stelle ist sich die evangelische Kirche noch mal ihrer eigenen Identität in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bewusstgeworden. Ansonsten ist es eben auch in der Kirche so, dass Lernprozesse lange dauern. Wir haben nur noch mal andere Wertesysteme mit unserer evangelischen Theologie und dieser Vorstellung von Freiheit, die wir von vorneherein bekommen haben.
Das ist ein interessanter Punkt, da würde ich gerne noch ein bisschen dran bleiben, auch wenn wir an das bevorstehende Jubiläum denken, das ja weitgehend als säkulares, rein politisches Jubiläum begangen wird: Können Sie noch etwas ausführen, was es bedeutet, Freiheit als etwas zu verstehen, das uns von Gott gegeben wird?
Wir sind als freie Menschen von Gott erschaffen. Wir sind alle mit menschlicher Würde ausgestattet. Das ist erstmal da. Dafür müssen wir nicht kämpfen. Wir müssen aber dieses Gut, das wir bekommen haben, schützen und nutzen. Freiheit ist mit einer Verantwortung verbunden.
Die Freiheit ist nach dieser Auffassung also zuerst da, es muss nicht erst eine Revolution geben, um sie zu bekommen? Wir Menschen müssen die Freiheit nur realisieren?
Genau. Und was das bedeutet, verändert sich immer wieder. Die Themen verändern sich, die Zeiten verändern sich, die Menschen verändern sich.
Was wären denn aktuelle Punkte, wo man auch mit so einem Jubiläum anknüpfen müsste?
Wir haben seit Beginn der Corona-Pandemie hier auf dem Römerberg jeden Montag und oftmals auch samstags Demonstrationen der sogenannten Querdenker. Da wird ganz viel „Freiheit“ gerufen. Jeden Montag und jeden Samstag. „Freiheit“ ist dort ein sehr diffuser Begriff. Es geht um Freiheit ohne Verantwortung. Da gehören klare Worte hin, denke ich, sowohl von der Kirche, als auch aus der Politik.
Klarere Worte als die, die schon gesagt werden?
Es kann immer deutlicher sein. Aber worauf es mir ankommt ist, dass das keine Eintagsfliege sein darf. Wir müssen auf Dauer darauf achten, dass wir unsere Demokratie bewahren, schützen, weiterentwickeln. Das ist ja auch das Anliegen des sogenannten Demokratiezentrums, das nach dem Jubiläum neben der Paulskirche entstehen soll. Das finde ich eine richtige Überlegung, diesen Ort der Paulskirche weiter zu entwickeln, ihn als historischen Ort zu erhalten, aber in Bezug auf eine lebendige, demokratische Diskussion.
Rund um das Jubiläum wird es in der Stadt viele Veranstaltungen geben – sind Sie mit den Planungen zufrieden? Fehlt da noch etwas?
Ich glaube, man kann erst hinterher beurteilen, ob da was gefehlt hat. Im Moment gibt es wirklich sehr, sehr viele hochinteressante Angebote. Sowohl aus der Stadtregierung, als auch von kulturellen Institutionen, der Kirche. Und das alles nicht nur auf kommunaler Ebene, sondern auch auf Landes- und Bundesebene. Ich freue ich mich auf all das, was wir da erleben werden. Und ich werde mich auch selber mit Veranstaltungen beteiligen, um auch klar zu machen: Die Paulskirche war damals eine Kirche und ist bis heute auch als Gebäude eine Kirche. Auf der Paulskirche obendrauf ist ja auch weiterhin das Kreuz, das nach dem Dotationsvertrag aus 1953 auch nicht entfernt werden darf. Und der religiöse Charakter des Gebäudes soll erhalten bleiben – auch das steht in diesem Dotationsvertrag. Und das zu definieren und zu diskutieren, darauf freue ich mich.
1 Kommentar
Kirche möchte gern einfach nur "evangelisch" sein und überträgt den Wunsch zu fix auf die Geschichte. Denn nein, es gab 1848 in Frankfurt natürlich nicht "eine Gemeinde", sondern mindestens drei: neben der lutherischen Stadtkirche als einer großen "Gemeinde" neben weiteren auch die Französisch-reformierte Gemeinde und Evangelisch-reformierte Gemeinde, beide Jahrhunderte alt. In den Räumen der Letzteren tagte vom 6. November 1848 bis zum 9. Januar 1849 in 40 Sitzungen übrigens die Nationalversammlung, als die Paulskirche nicht benutzbar war. Das und mehr kann man nachlesen im November-Kirchenblatt der Reformierten, zu finden unter www.evref.de