Armut, Diskriminierung, Angst: Was es bedeutet, obdachlos zu sein
Frau Professorin Schrader, Herr Professor Kolbe, ist es die größte existentielle Sorge, keine Wohnung zu haben?
Kathrin Schrader: Es ist eine sehr große existentielle Sorge, nirgendwo zugehörig zu sein, keinen Ort für sich zu haben. Aber es gibt natürlich auch andere Situationen wie den Tod von lieben Menschen oder schwere Krankheit …
Christian Kolbe: … aber es geht schon sehr stark an die Frage von Autonomie und Stabilität, die mit Wohnen verbunden ist, das ist nicht unerheblich in der Frage von existentieller Not.
Kann es im Prinzip jedem passieren, die Wohnung zu verlieren?
Kolbe: Der Armutsforscher Olaf Groh-Samberg spricht von einem Begriff von Armut, der eine Gegenrede ist zu „es kann jedem und jeder passieren“. Er sagt, soziale Mobilität ist keineswegs jedem vorbehalten, wenn, dann gibt es einen Sockel von armen Menschen, der wächst, eine soziale Abstiegsmobilität in die „verfestigte Armut“.
Also trifft Wohnungslosigkeit besonders diejenigen, die bereits arm sind, und zum Beispiel Arbeit, aber keine Wohnung haben?
Kolbe: In den USA gibt es schon lange die Gruppe der „Working Poor“. Übersetzt ins Sozialgesetzbuch II heißt das aufstockende Leistungen für Menschen, die keine existenzsichernde Arbeit bekommen, und für die die Formel „Arbeit verheißt Wohlstand“ nicht aufgeht.
Schrader: Man muss immer die Einzelschicksale anschauen. Die Verführung, sich privat krankenzuversichern und dann krank zu werden, kann relativ schnell zu einem Prozess der Verarmung führen. Und nach dem neuen Scheidungsrecht sind Frauen, wenn sie sich trennen, plötzlich arm oder müssen jede Arbeit annehmen.
Wächst die Diskriminierung von Obdachlosen?
Kolbe: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe prognostiziert für 2018 1,2 Millionen Menschen ohne Wohnung oder Obdach, 40 Prozent Zuwachs im Vergleich zu 2017. Genauso spiegeln das Zahlen darüber, wie viele Menschen Anspruch auf Sozialwohnungen haben und wie wenige tatsächlich eine bekommen. Hier werden größer werdende Gruppen systematisch ausgeschlossen.
Schrader: Und außerdem trauen sich die Leute wieder, Dinge zu sagen, die sie vielleicht vor drei Jahren nicht gesagt hätten. Viele denken, wer auf der Straße lebt, erhält Transferleistungen. Dabei ist nur ein ganz geringer Prozentsatz noch im Sozialhilfesystem, sonst wären sie ja nicht wohnungslos. Die Leute grenzen sich voneinander ab, anstatt sich zu solidarisieren, und so entsteht eine soziale Kälte im Land.
Was macht es seelisch mit Menschen, wenn sie ohne Schutz auf der Straße leben müssen?
Kolbe: Es ist ein starkes Moment von Beschädigung, keine Autonomie in den eigenen vier Wänden zu haben.
Schrader: Ich habe Interviews mit drogenkonsumierenden Sexarbeiterinnen geführt, von denen auch einige auf der Straße leben. Was mir auffiel, ist eine unglaubliche Stärke. Ich habe mich gefragt, wo sie diese Kraft hernehmen, jeden Tag wieder zu beginnen, bei all den Verletzungen, die sie erleben? Natürlich schreiben sich Verletzungen in den Körper ein, am Anfang ist es nur eine Beule und irgendwann spüren sie nichts mehr, weil sie es sonst nicht aushalten würden. Manchmal werden solche Menschen als völlig fremdbestimmt und nicht mehr handlungsfähig beschrieben, aber das stimmt nicht. Sie entwickeln gerade in solchen Welten, wenn auch zwangsweise, eine Stärke des Überlebens. Und das ist anzuerkennen, ohne es zu romantisieren.
„Housing First“ ist eine Strategie der Wohnungslosenhilfe, die in Wien und den USA praktiziert wird. Wäre das auch ein Konzept für hierzulande?
Schrader: Hier heißt es ja, Menschen müssen erst wieder wohnfähig werden, aber ich sage, nee, man kann wohnen nicht verlernen. Jeder hat ein Recht auf Wohnen. Das muss in der Sozialpolitik erstmal ankommen, neben einer Veränderung der Wohnungspolitik. Ich finde das Konzept „Housing First“ ein wunderbares Ziel, aber wir müssen an vielen Stellschrauben daran arbeiten.
Kolbe: Da vermischen sich eine sozialpolitische und eine sozialarbeiterische Perspektive. Wer über „Housing First“ redet, muss zuerst Wohnungen für Menschen finden und bauen. In Städten wie Frankfurt sind diese Wohnungen aber im Moment gar nicht vorhanden. Wir müssen also über die fehlende Infrastruktur nachdenken und mehr über Verhältnisse als über zu korrigierendes Verhalten sprechen.
Schrader: Und es bedarf einer Destigmatisierung von Obdachlosen, also dass sie nicht faul und leistungsunwillig sind, sondern Menschen mit einem Recht auf Wohnen. Es muss ein gesellschaftlicher Wert sein, nicht zu wollen, dass ein großer Teil dieser Gesellschaft auf der Straße lebt. Dazu bedarf es einer Veränderung in der Zivilgesellschaft. Sozialarbeit sitzt da an der Schnittstelle.
Gib es in Bezug auf Wohnungslosigkeit einen Unterschied zwischen Frauen und Männern?
Kolbe: Ein Indikator sind die Einrichtungen des Hilfesystems: seit vielen Jahren kommen dorthin 75 Prozent Männer und 25 Prozent Frauen.
Schrader: Die Scham der Frauen ist nochmal größer, sie versuchen lange, Wohnungslosigkeit zu verheimlichen. Denn es ist historisch gewachsen, dass die Frau ins Haus gehört. Wenn Frauen dann auf der Straße landen, ist die Stigmatisierung eine größere und ihre Verletzbarkeit eine andere. Drogenkonsumierende Sexarbeiterinnen stehen am unteren Ende der Hierarchie. Sie sind nicht nur „Junkies“, sondern „Huren“ und leben oft auf der Straße. Aber im öffentlichen Raum zu leben ist eben Männern vorbehalten. Um da so schnell wie möglich herauszukommen, lassen sich Frauen auf Situationen ein, auf die sie sich unter anderen Umständen nicht eingelassen hätten.
Was ist mit EU-Bürgern, die hier auf der Straße leben und durch alle Hilfesysteme fallen?
Schrader: Das ist die Frage nach den Arbeitsverhältnissen und warum Menschen ihre Herkunftsländer verlassen. Sie werden zum Teil gebraucht und auch ausgebeutet – als Erntehelfer und Erntehelferinnen, als Fleischer und Fleischerinnen, als Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen. Dahinter steckt oft eine Geschichte des Leids. EU-Bürger und EU-Bürgerinnen kommen in der Hoffnung, dass es hier besser ist. Die EU-Freizügigkeit ermöglicht ihnen das, aber nach einer Überbrückung für maximal einen Monat müssen sie ihr Leben selbst finanzieren und fliegen aus allen Hilfesystemen raus. Das ist eine Form von Diskriminierung, die so nicht sein kann, die Bundesregierung muss hier zusammen mit den EU-Beitrittsländern Lösungen schaffen
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