Als die Kirche politisch wurde: Der Protestantismus und die 68er
Die Wirkungsgeschichte der
68er-Bewegung ist umstritten. Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt etwa ist der
Meinung, dass bis heute als Folge der damaligen Umwälzungen eine linke
Meinungselite am Werk ist, die eine im Grunde bürgerliche Mehrheit beherrscht.
Dagegen, so provozierte Dobrindt Anfang des Jahres, sei eine bürgerliche Revolution
nötig. Und der CSU-Mann nimmt auch gleich das Christentum mit ins revolutionäre
Boot: „Das Konservative und das Christliche sind keine Gegensätze, sondern
bilden eine unauflösliche Einheit.“
Diese Einheit gab es einmal. Die hohe Zeit des Christlich-Konservativen war die Ära Adenauer. In den 1950er und frühen 1960er Jahren waren mehr als 90 Prozent der Westdeutschen Kirchenmitglieder, 50 Prozent der Katholiken besuchten den Gottesdienst. Die Volkskirchen definierten die gesellschaftlichen Normen in der Familienpolitik, bei den Rollenbildern von Mann und Frau, bei Sexualität, Erziehung und Bildung. Regelmäßig vor Wahlen verlasen die katholischen Hirten ihren Schäfchen einen Brief, in dem stand, wie sie zu wählen hatten: konservativ.
Doch in den 60er Jahren begann es, im Wirtschaftswunderland zu brodeln. Besonders an den Universitäten artikulierte sich der Unmut. Studentenvertretungen kritisierten reaktionäre Politik und verkrustete Strukturen: „Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren“.
Diesen tausendjährigen Muff rochen auch junge Theologinnen und Theologen. Sie begehrten gegen die Institution Kirche auf. Vor allem die evangelischen Studentengemeinden wurden zu politisch und theologisch widerständigen Orten. Der langjährige hessen-nassauische Kirchenpräsident Peter Steinacker (1943–2015) erzählte einst, wie er mit Vertretern seiner Studentengemeinde ins Schwäbische gefahren ist, um den dortigen frommen Pietisten die revolutionäre Kraft des Evangeliums nahezubringen. Allerdings habe der Pfarrer den Studenten das Gemeindehaus verboten; sie mussten die Revolution im Wirtshaus ausrufen.
Die spätere Frankfurter Pröpstin Helga Trösken berichtet, dass Theologiestudenten in Mainz bereits 1966 ihre Professoren mit „Sit ins“ für mehr Mitbestimmung auf die Palme brachten. Trösken war auch Mitglied der „Außersynodalen Opposition“, die bei hessen-nassauischen Synodaltagungen Banner mit ihren Forderungen von der Besucherempore herunterließen.
In der Pfalz kam es 1968 zu einer Auseinandersetzung zwischen jungen Theologen und der Kirchenleitung. Die angehenden Pfarrer wollten nicht ordiniert werden: Sie sahen in diesem Akt einen autoritären Zugriff der Institution, dem sie sich zunächst verweigerten.
Eine besonders radikale Minderheit junger Theologen traf sich im Oktober 1968 zur ersten Celler Konferenz. Ihr Protest richtete sich dagegen, dass die Kirche als Stabilitätsfaktor im Spätkapitalismus diene und durch Tröstungen die Leiden der Menschen zudecke. Die Folgerung daraus war eine Absage an alle Rituale: „An der funktionellen Stabilisierung über Predigt, Seelsorge und Amtshandlung wollen wir uns nicht mehr beteiligen.“
So radikal sahen das sicher wenige. Doch die Vorstellung von einer Kirche, die sich in der Nachfolge Jesu aktiv gegen Unterdrückung, Gewalt und Krieg engagiert, elektrisierte vor allem junge Theologen. Vielerorts forderten sie, in den Gottesdiensten politisch zu diskutieren.
Vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs plante der Ökumenische Arbeitskreis Köln beim Essener Katholikentag 1968 einen solchen politischen Gottesdienst. Zu den Organisatoren zählten Dorothee Sölle, Fullbert Steffensky und Heinrich Böll. Den Veranstaltern war ein solcher Gottesdienst suspekt. Sie verschoben ihn auf 23 Uhr: Die Tradition des Politischen Nachtgebets war geboren.
Vor allem der Name Sölle ist mit eng mit diesen Nachtgebeten verbunden. Sie sprach am 1. Oktober 1968 im Politischen Nachtgebet in der evangelischen Antoniterkirche in Köln vor mehr als 1.000 Zuhörern ein Glaubensbekenntnis, das mit den Worten begann: „Ich glaube an Gott, der diese Welt geschaffen hat, damit Glück und Frieden sich ausbreiten; der es nicht zulassen will, dass Menschen in Hunger und Elend bleiben und sich gegenseitig töten.“
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar geht heute sogar so weit, zu sagen, dass die Studentenbewegung ohne den Protestantismus nicht denkbar sei. Er bezieht sich in einem Interview mit „Zeit online“ unter anderem darauf, dass der protestantisch sozialisierte Studentenaktivist Rudi Dutschke gläubiger Christ gewesen ist.
Der Theologieprofessor Helmut Gollwitzer war mit Dutschke befreundet und nahm ihn zeitweise bei sich auf. Der ehemalige hessen-nassauische Kirchenpräsident Martin Niemöller überließ ihm seine Grabstätte in Berlin. Und der Pfarrer und Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz, begleitete freigepresste Terroristen der „Bewegung 2. Juni“ in den Jemen.
Jenseits der menschenverachtenden terroristischen Gewalt sei der Einfluss der politischen 68er-Generation auf die Kirchen bis heute deutlich spürbar, erklärt der amtierende hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung. Seine Kirche habe nach 1968 noch stärker gesellschaftliche Fragen aufgenommen und Position bezogen - vor allem, wenn es um Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und Frieden gehe. Deshalb habe die Kirche auch immer wieder die Frage nach Menschenwürde und Menschenrechten ins Zentrum gestellt: etwa im Einsatz gegen die Apartheid in Südafrika, bei der Aussöhnung mit den Juden oder bei der Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.
Text: Klaus Koch