Gebrochene Heimeligkeit: So ist Weihnachten im Gefängnis
Das schmale, raumhohe Fenster hat ein paar Flecken. An manchen Stellen sind es fünf Stück in einem Radius von etwa zwanzig Zentimetern. Die stammen von Fingerkuppen. Von den Fingerkuppen großer Männerhände. Es gibt aber auch einzelne Flecken, meist auf einer Höhe von ungefähr 1,80 Meter. Die stammen von Nasenspitzen. Die Scheibe ist ganz offensichtlich ein beliebter Platz. An ihrem Fuß verbreitet eine Kerze ein bisschen Adventsstimmung. Die Aussicht ist weniger heimelig: Stacheldraht. Betonmauern. Plötzlich auffliegende Tauben, ganze Schwärme. Wer so viele Vögel nicht gewohnt ist, zuckt zusammen.
Das Fenster ist etwas Besonderes in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt I, Hessens größtem Hochsicherheitsgefängnis für Untersuchungshäftlinge, wo mutmaßliche Terroristen und Trickbetrüger auf ihren Prozess warten. 533 Tatverdächtige müssen sich demnächst wegen Mordes und Menschenhandels, Körperverletzung und Bandenkriminalität einem Richter stellen.
Das Fenster im Andachtsraum ist das einzige Fenster ohne Gitter, in der ganzen Anlage. Sicher, auch hier vergisst man nie, wo man ist: Ja, die Wände sind aus Beton. Ja, es gibt eine Überwachungskamera. Und ja, natürlich ist die Scheibe aus Sicherheitsglas. Aber da ist auch das Himmelsrechteck. Der Winterhimmel über der Oberen Kreuzäckerstraße in Preungesheim, den man ausnahmsweise nicht in Quadrate zerteilt sieht. Der freie Ausblick auf Wolken, auf Grau, auf Blau, auf Weite. Unendlichkeit, wenn man so will.
„Deshalb stehen die Männer oft ganz lange vor dieser Scheibe, fassen sie an, drücken sich die Nasenspitze platt und schauen und schauen“, sagt die evangelische Gefängnisseelsorgerin Lotte Jung. Eine kleine Flucht, während andere Menschen draußen ihre Weihnachtseinkäufe erledigen.
Wenn es auf Weihnachten zugeht, ist der Raum mit dem grob gehauenen Altar aus Eichenholz, den evangelische, katholische und orthodoxe Christen sowie Muslime nutzen, mehr denn je ein Anziehungspunkt. Ein Ort, um Gefühlen freien Lauf zu lassen, für Menschen, die mit Gefühlsäußerungen häufig ihre Probleme haben. Auch solche kommen, die vielleicht nie zuvor einen Fuß in eine Kirche gesetzt haben. Oder sehr lange nicht mehr. Auf dem Eichenaltar steht eine Krippe, schräg unter der Überwachungskamera; im Büro der Seelsorgerin hängen Strohsterne vorm Fenstergitter. Gebrochene Heimeligkeit.
Im Dezember sind die schlichten Stühle während der Gottesdienste besonders gut gefüllt, das ist hier nicht anders als draußen. „Viele Gefangene kommen regelmäßig, unabhängig von ihrer Konfession“, sagt Lotte Jung. Und doch ist vieles ganz anders als auf der anderen Straßenseite der Oberen Kreuzäckerstraße, anders als in einer normalen Gemeindekirche; das fängt schon damit an, dass ein Satz wie „Und vergib uns unsere Schuld“ hier nicht nur so dahin gemurmelt wird. Schuld, Vergebung, Hoffnung: Die biblische Botschaft trifft hier so unmittelbar auf ihre Kernthemen, dass es schmerzt. „Wenn ich zum Beispiel sage, dass Gott die Welt zusammenhält, bedeutet das für Menschen, deren persönliche Welt gerade auseinanderbricht, unter Umständen ganz viel“, sagt Jung. Manchmal legt sie eine CD von Johnny Cash ein, der viel in Gefängnissen aufgetreten ist. „Seine Songs funktionieren hier tatsächlich sehr gut.“
An Heiligabend muss es aber „Stille Nacht“ sein. „Stille Nacht“ kennt jeder. „Stille Nacht“ weckt Kindheitserinnerungen. Bei „Stille Nacht“ wird geweint. „Frau Jung, es war gut, dass es so dunkel war“, habe ein Gefangener nach dem letzten Weihnachtsgottesdienst gesagt. „Weihnachten ist für die meisten Gefangenen eine besonders traurige, aber auch bewusst erlebte Zeit.“ Wer von seiner Familie getrennt ist, wer in einer extremen Lebenssituation steckt, wer nicht weiß, wie es weitergeht, spürt die Einsamkeit im Dezember mehr denn je.
Das weiß auch Anstaltsleiter Frank Lob, dessen Büro mit den vielen Zimmerpflanzen wie eine grüne Oase in all dem Grau wirkt. Wobei er mehr fürs Praktische zuständig ist. Dafür zum Beispiel, dass auf jedem Flur ein Weihnachtsbaum steht. Dass jeder Inhaftierte ein Paket mit Kaffee, Süßigkeiten und Tabak bekommt. Und eine Kerze für den privaten Haftraum, sobald es Advent wird. Eine Kerze, die bis Anfang Januar, wenn auch die Orthodoxen ihr Weihnachtsfest gefeiert haben, auf Fensterbrett oder Schreibtisch brennen darf.
533 offene Flammen: ein beachtliches Zugeständnis. Aus naheliegenden Brandschutzbedenken sind Kerzen im übrigen Jahr tabu. „Ein Feuer in einem Gefängnis mit all seinen geschlossenen Türen ist das Horrorszenario schlechthin“, sagt Lob. Doch die Adventskerze verbieten? „Undenkbar. Die Symbolkraft dieser kleinen Geste ist sehr groß. Es geht bei allem, was wir im Gefängnis tun, nicht nur um die äußere Sicherheit. Sicherheit bedeutet auch soziale Sicherheit. Weihnachten ist eine Zeit großer Anspannung. Es gibt hier Leute, die können ausrasten.“ Heimeligkeit geht nicht vor Sicherheit. Heimeligkeit ist Sicherheit. Zumindest: auch. So sieht Lob das.
Einer, dem es vor den kommenden Wochen graut, ist Martin W. (Name geändert). Der kräftige Mann sitzt in Jogginghose, rotem T-Shirt und beigem Kapuzenpulli im Besuchsraum, seine Frankfurter Herkunft ist unüberhörbar. Er ist nach mehreren Monaten in Preungesheim rechtskräftig verurteilt und wird Anfang kommenden Jahres in ein anderes Gefängnis wechseln. Warum er hier sitzt, sagt er nicht, seine Reststrafe beträgt drei Jahre und sieben Monate, was nicht wenig ist.
Es ist nicht sein erstes Weihnachten hinter Gittern. „Das Schlimmste sind die Weihnachtssendungen im Fernsehen, da muss ich ausschalten.“ Und das, obwohl der Fernseher für viele im Knast die einzige Ablenkung ist. 2011 hat Martin W. schon einmal eine Adventszeit hinter Gittern erlebt. Seine Frau saß im Frauengefängnis, die Eheleute konnten sich nicht sehen, der gemeinsame Sohn feierte ohne Eltern bei Oma und Opa. „Ich habe die beiden so schrecklich vermisst“, sagt der 48-Jährige leise. Er wird trotz allem die Kerze anzünden. Natürlich wird er die Kerze anzünden. Und zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben will Martin W. am Heiligen Abend den Gottesdienst besuchen. „Diesmal mach ich das.“