Leben & Alltag

Reden übers Sterben: Warum es sich lohnt und wie es gelingt

In einer Zeit der scheinbar unbegrenzten medizinischen Möglichkeiten fällt es zunehmend schwer, den Gedanken an den Tod zuzulassen. Dabei birgt ein Gespräch über das Sterben Chancen – für Ärztinnen, Patienten und Angehörige.

Der Elefant im Raum: Alle sehen ihn, niemand spricht darüber. So ist es oft auch mit dem Sterben. |  Illustration: Felix Volpp
Der Elefant im Raum: Alle sehen ihn, niemand spricht darüber. So ist es oft auch mit dem Sterben. | Illustration: Felix Volpp

In manchen Kulturen war es früher üblich, den Boten, der die Nachricht von der verlorenen Schlacht überbrachte, zu köpfen. So mag sich heute mancher Arzt fühlen, der einem Patienten sagen muss, dass er für ihn nichts mehr tun kann. Angehörige wie Kranke verfallen dann häufig in Vorwürfe – da müsse doch etwas gehörig schief gelaufen sein in der Behandlung, da werde man den Anwalt einschalten; oder sie ziehen einfach weiter zur nächsten Ärztin, nach der Devise „schlechte Diagnose – schlechte Klinik“. 

„Wir haben riesige Fortschritte in der Medizin gemacht, gerade in der Krebstherapie waren sie in den letzten Jahren spektakulär“, sagt der Medizinprofessor und Theologe Matthias Volkenandt. „Gleichzeitig beobachten wir aber, dass Menschen immer weniger bereit sind, die Grenzen der Medizin zu akzeptieren.“ Sterben-Müssen wird heute vielfach als Niederlage verstanden. Volkenandt war lange in onkologischen Abteilungen verschiedener Kliniken tätig und reist heute mit dem Anliegen durchs Land, die Kommunikationskultur in der Medizin zu verbessern. In Frankfurt erklärte er in der Evangelischen Akademie, wie schwierige Gespräche über das Tabu-Thema Tod von Angehörigen wie von Ärzten geführt werden können und warum das wichtig ist. 

Oft werden Therapien empfohlen, die sowieso nicht wirken

40 Prozent der Onkologen räumen ein, dass sie ihren Patientinnen und Patienten Behandlungen anbieten, von denen sie selbst nicht glauben, dass sie funktionieren. „Leichter, als eine schlechte Nachricht zu überbringen, ist es für den Arzt immer, zu sagen: Wir probieren jetzt noch Therapie X oder Medikament Y“, sagt Volkenandt. Noch vor 40 Jahren galt es sogar als richtig, den Betroffenen eine ernste Diagnose zu verschweigen, um nicht ihre Hoffnung zu untergraben. In der Medizin habe sich die Einstellung dazu inzwischen geändert, berichtet der Arzt, von Angehörigen begegne ihm dieses Anliegen jedoch nach wie vor häufig. „Im Familienkreis wird lieber über die nächsten Schritte der Therapie gesprochen als den Rat von Palliativmedizinern zu beherzigen, nämlich: Talk about the elephant in the room! Sprich über den Elefanten im Raum!“

Statt über das Offensichtliche zu sprechen, fachsimpelt man lieber über die richtige Dosierung der Tabletten. Sich der eigenen Begrenztheit bewusst zu sein, davor scheuen viele Menschen zurück. Doch was ist der Grund dafür, dass wir dem Tod so hilflos gegenüberstehen? Spielt vielleicht die zunehmende Säkularisierung eine Rolle, also dass wir nicht mehr gewohnt sind, uns mit Hilfe von Religion mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen? 

Pfarrer Reinhold Dietrich glaubt, dass es eher anders herum ist: „Gerade weil Religion die Beschäftigung mit dem Tod beinhaltet, ziehen sich Menschen daraus zurück.“ Diese Scheu vor dem Tod sei auch eine Folge davon, dass wir heute mit dem Sterben im Alltag immer seltener konfrontiert sind. Seine eigene Großmutter sei nach ihrem Tod noch drei Tage zuhause aufgebahrt worden, erzählt Dietrich: „Das war üblich, der Tod war ein Teil des Lebens.“ In den 1960er Jahren seien dann vielerorts Friedhofshallen gebaut worden, und immer mehr Menschen starben im Krankenhaus statt zuhause. „Den Tod haben wir komplett aus unserem Leben ausgegrenzt“, so Dietrich: Die Oma ist dann eben plötzlich weg, den Sarg lasse man häufig zu, und es ist eine verbreitete Ansicht, dass man Kindern den Anblick von Toten ersparen müsse. 

Dietrich ist Seelsorger im evangelischen Hospiz in Frankfurt und begleitet Menschen beim Sterbeprozess. 95 Prozent von ihnen sind Krebskranke im Endstadium. Doch wer glaubt, die Patientinnen und Patienten in den zwölf Zimmern des Hauses hätten sich alle selbstbestimmt und bewusst auf ihre letzte Wegstrecke begeben, irrt. 

Viele sind verbittert, dass sie „jetzt schon“ sterben müssen

„Die wenigsten wollten wirklich ins Hospiz. Sie sind hier, weil zuhause niemand sie pflegen kann, und weil sie im Krankenhaus nicht mehr therapiert werden konnten“, berichtet Dietrich. Viele seien verbittert darüber, dass sie „jetzt schon“ sterben müssen, selbst die Hochaltrigen. Und manche leugnen den Gedanken bis zuletzt. Wie jener Patient mit dem Lungentumor, der seinen Husten immer noch als Erkältung interpretiert. „Er weiß, dass er sterben wird, aber er kann es sich emotional nicht vorstellen. Und will es auch nicht.“ 

Dietrich respektiert das: „Wenn ein Mensch glaubt, bestimmte Dinge nicht aushalten zu können, hat er das Recht dazu.“ Was aber spricht überhaupt dafür, ein Bewusstsein über die Endlichkeit des Lebens zu entwickeln, und wie kann das Sprechen über das Sterben gelingen? 

Das wichtigste Argument des Mediziners Volkenandt lautet: Nur so hat man die Chance, die verbleibende Lebenszeit zu nutzen. „Darum darf ein Mensch nicht betrogen werden!“ Aus Studien wisse man, dass Schwerstkranke weniger traurig sind über die Kürze der verbleibenden Lebenszeit als darüber, „nicht gelebt zu haben“. Anerkennen zu müssen, was sie versäumt haben, vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen. Hier eröffne ein Gespräch über das bevorstehende Lebensende die Chance, offene Themen noch zu klären: Wie haben wir miteinander gelebt? Wo habe ich dich verletzt? Was bereue ich und kann es vielleicht noch heilen? Was wollen wir noch erleben? Nur wer die eigene Begrenztheit thematisiert, kann auch die Ängste mit anderen teilen. 

Pfarrer Dietrich sieht noch einen weiteren Aspekt: „Wir verbringen den größten Teil unseres Lebens in dem Bewusstsein, Dinge ändern zu können, zum Beispiel eine schlechte Beziehung irgendwann zu beenden. Aber im Angesicht des Todes geht es darum, zu akzeptieren, dass ich das nicht gemacht habe. Und mich mit meinem Leben, so wie es war, dennoch zu versöhnen.“ Nur dann könne die letzte Phase in Zufriedenheit verlaufen, glaubt der Seelsorger. 

Besonders beeindruckt hat ihn vor Jahren ein 25-Jähriger kurz vor seinem Tod. Er erzählte von der Weltreise, die er mit seiner Freundin noch gemacht hatte, und fand, allein deshalb habe sich sein Leben gelohnt. „Der war nicht verbittert wegen der vielen Dinge, die er nicht mehr würde erleben können, wie seine Freundin heiraten oder ein Kind bekommen. Er hat an seinem Leben das halb volle Glas gesehen. Und deshalb konnte er halbwegs getrost sterben.“ 

Eher die Ausnahme sind auch Beispiele wie das von Frau P., die ein paar Tage vor unserem Gespräch ins Hospiz gekommen war. Im Krankenhaus hatte man der 80-Jährigen zur Entfernung ihres Tumors eine schwere Operation empfohlen, die mit einer Prognose von einigen zusätzlichen Jahren verbunden war, aber auch mit einer starken körperlichen Verstümmelung. Diesen Preis wollte Frau P. nicht bezahlen. Sie entschied sich gegen die Operation und suchte ganz bewusst das Hospiz auf. 

Manche genießen es, dass sie sich um nichts mehr kümmern müssen

„Im Medizin-Betrieb wird gekämpft bis zum Schluss. Und der Patient muss mitkämpfen, ob er will oder nicht“, hat Pfarrer Dietrich beobachtet. Im Hospiz hat man die Möglichkeit, den Kampf zu beenden und zur Ruhe zu kommen. Frau P. liegt nun beinahe den ganzen Tag in ihrem Zimmer und hört Radio. „Sie genießt es, dass sie sich um nichts mehr kümmern muss. Ihre Tochter sagt, sie habe ihre Mutter seit Jahren nicht so zufrieden gesehen“, erzählt Dietrich. 

Offenbar hatte Frau P. sich seit längerem Sorgen gemacht, wer sich am Ende um sie kümmern könne, wagte es jedoch nicht, ihren Angehörigen oder Freundinnen ein Gespräch über den Tod zuzumuten. Dieses Phänomen beobachten Mediziner wie Seelsorgerinnen gleichermaßen. Wenn der Kranke dann doch das Thema anschneide, geschehe es häufig durch vage Andeutungen oder flapsige Bemerkungen. „Sie sagen dann zum Beispiel: Ich muss doch nichts mehr essen, ich sterbe doch eh bald“, erzählt Dietrich. 

Als ausgebildeter Seelsorger erkennt er solche Andeutungen und geht dann darauf ein. Aber im Medizinstudium kamen professionelle Kommunikationstechniken lange Zeit gar nicht vor. Kranke, die das Bedürfnis haben, ihren bevorstehenden Tod zu thematisieren, müssen deshalb sowohl bei Ärzten als auch bei Angehörigen oft erleben, dass diese mit dem „Aber-Modus“ abblocken, sagt Volkenandt: „Aber das darfst Du doch nicht sagen! Aber Du wirst doch wieder gesund!“ Statt sich in solchen Momenten in Fakten oder Beschwichtigungen zu flüchten, sei es besser, mit Rückfragen zu reagieren, schlägt er vor: „Wie kommt es, dass Du das jetzt sagst?“ So ist die Möglichkeit für ein Gespräch eröffnet.

Und wenn sich der Patient selbst nicht an das Gespräch über das Sterben herantraut? Angehörige und Freundinnen können dennoch signalisieren, dass sie zu einem Gespräch bereit wären, sagt der Experte: „Sag mal, gab es in letzter Zeit auch Momente, wo es Dir nicht so gut ging?“ könnte ein Angebot zum Dialog sein. „Solange wir fragen, kann nichts schief gehen“, macht Volkenandt Mut. Fragen seien ein Angebot zum Gespräch, der Patient kann es ausschlagen oder annehmen.

Dass die Kranken selbst bestimmen, wann und mit wem sie über den Tod sprechen wollen, ist auch dem Seelsorger im Hospiz wichtig. „Das ist oft nicht der Ehepartner, weil der selbst so betroffen ist, dass er im Gespräch zur Belastung würde“, sagt Dietrich. Und „absolut legitim“ sei es auch, wenn Angehörige sagen, „Ich schaff das nicht“. 

Ein Hospiz habe gerade den Vorteil, dass es dort ganz unterschiedliche Gesprächspartner gibt, von der Pflegerin über den Ehrenamtlichen bis zur Hauswirtschafterin. „Unsere Erfahrung ist: Der Patient sucht sich schon den Richtigen aus, mit dem der über das Thema reden möchte.“ 


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Autorin

Heike Baier 5 Artikel

Heike Baier zog vor 20 Jahren aus Südbaden nach Frankfurt und hat es nie bereut. Als freie Journalistin schreibt sie über Themen aus Psychologie, Bildung, Architektur und Nachhaltigkeit.