Nicht nur Bomben, auch Nazi-Erziehung traumatisierte Kinder
Kein Erziehungsratgeber dürfte jemals so viel Schaden angerichtet haben wie die Bücher von Johanna Haarer. Während des Naziregimes waren sie in fast jedem Haushalt zu finden, Millionen von Müttern folgten ihrer kruden Erniedrigungspädagogik.
Die überzeugte Nationalsozialistin Haarer betrachtete das Kind als Feind und warnte zum Beispiel davor, es zu trösten oder zu streicheln. Jede Gefühlsbekundung, ja selbst bloßen Blickkontakt, lehnte Haarer kategorisch ab. Dafür wurden der „deutschen Mutter“ allerlei Züchtigungsmittel anempfohlen, wie Kinder ohne Essen ins Bett zu schicken, sie in den Keller zu sperren oder stundenlang auf ungekochten Erbsen knien zu lassen.
Als Katrin Einert diese Ratgeber zum ersten Mal las, war sie erschüttert. Im Rahmen des Frankfurter Fachhochschulforschungsprojekts „Trauma im Alter“ unter der Leitung von Professorin Ilka Quindeau interessierten sie und ihre Kolleginnen sich für die Bedingungen, unter denen Menschen, die heute alt sind, als Kinder aufgewachsen sind. Und nun hielt sie Anleitungen in der Hand, die die Herausbildung einer Mutter-Kind-Bindung regelrecht verhindern sollten.
Heute würden die Schriften der 1988 verstorbenen Ärztin als Aufruf zur Kindesmisshandlung gelten. In Deutschland sind sie jedoch, von Nazi-Jargon befreit, noch bis Ende der 1960er Jahre verlegt worden. Auch als Lehrbücher in Berufs- und Fachschulen wurden sie nach dem Krieg weiter eingesetzt.
Die NS-Pädagogik hatte gravierende Folgen
Was für gravierende Folgen diese nationalsozialistische Pädagogik haben konnte, führte Einert bei einem Fachtag für Ehrenamtliche vor Augen, die alte Menschen besuchen und ihnen Gesellschaft leisten. Wenn von traumatisierenden Erlebnissen dieser Generation die Rede sei, gehe es meist um die Bombennächte oder die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung. Doch verantwortlich für viele Traumata seien auch die unmenschlichen Erziehungsmethoden der damaligen Zeit, ist Einert überzeugt.
In Zusammenarbeit mit Frankfurter Altenzentren und der Koordinationsstelle für Erwachsenenbildung und Seniorenarbeit des Evangelischen Regionalverbands hat sie mit 24 Frauen und Männern, die zwischen 1932 und 1942 geboren wurden, mehrstündige Interviews geführt. Dabei kam auch die familiäre Situation der Befragten zur Sprache. Die Wissenschaftlerin stellte fest, dass im Rückblick „Kriegshandlungen häufig als Deckerinnerungen für das eigentlich Schmerzhafte“ fungieren. Die Gräuel, die in den Familien stattgefunden haben, würden häufig „zugunsten des Bildes der guten Eltern vom Bewusstsein ferngehalten“.
Im Alter kehren oft verdrängte Erinnerungen zurück
Diese Verdrängung der eigenen Verletztheit stelle nicht selten eine lebenslange psychische Belastung dar, die im Alter an die Oberfläche drängen kann, sagte Einert. Alte Menschen hätten viel Zeit, Rückschau zu halten, zudem würden im Alter oft die Schutzmechanismen schwächer, die die schrecklichen Erinnerungen bislang im Hintergrund gehalten haben. Viele über 70-Jährige würden von „plötzlichen Angstanfällen, Ruhelosigkeit oder auch unerklärlichen körperlichen Symptomen“ heimgesucht.
Menschen, die in einer liebevollen Umgebung aufgewachsen sind, bereiten die Kriegserinnerungen dagegen deutlich weniger Probleme, wie Einert den Gesprächen entnehmen konnte. Sie vermutet daher, dass sich Traumata vor allem durch das Zusammenspiel von bedrohlichen Kriegsereignissen und gnadenlosem Elternhaus entwickeln.
Forschung spricht von acht bis dreißig Prozent Traumatisierten
Vor diesem Hintergrund hält sie es für dringend notwendig, in der sozialen Arbeit mit alten Menschen „die einseitige Betonung der Kriegserfahrungen“ aufzugeben. Indikatoren für eine Traumatisierung können unter anderem sozialer Rückzug, Depressionen, Gefühle der Unzulänglichkeit oder auch unkontrollierte Wutausbrüche sein. Bei solchen Anzeichen sollte die Elternhaussituation auf alle Fälle Berücksichtigung finden. Wobei das Ausmaß der Verstörung letztlich immer individuell von der psychischen Struktur, der Stabilität und der gesamten Lebensgeschichte abhängig sei.
Die Traumaforschung insgesamt beschrieb Einert bei ihrem Vortrag im Dominikanerkloster als schwieriges Feld, auf dem sich recht unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse tummeln. Je nach Messinstrument und Interpretation schwanke der Anteil traumatisierter Senioren zwischen acht und dreißig Prozent. Sie selbst habe bei ihrer Studie hingegen nur rund fünf Prozent der Frauen und Männer als wirklich traumatisiert eingestuft.