Mobilität im Alter ist mehr als Rollator und Seniorenticket
Unabhängigkeit ist ein hohes Gut. Dabei ist das, was im Alter zum Problem werden kann, uns nicht unbekannt: Wir denken im allgemeinen, dass fast jeder Ort dieser Erde für uns potenziell erreichbar sei. Doch auch wenn wir das Flugticket nach Sri Lanka per Klick buchen können, kann es vorkommen, dass wir die Freundin in Wiesbaden oder im übernächsten Stadtteil so gut wie nie sehen, weil diese Orte im Alltag nicht an unseren gewohnten Wegen liegen. Wir verlieren das Naheliegende aus den Augen.
Mobilität hat also mit Gewohnheit zu tun: mit den Wegen, die ich gemeinhin gehe, mit dem Menschen, die mich umgeben – mit der individuellen Wohlfühlmatrix. Fakt ist, sagt Alternswissenschaftler Frank Oswald von der Goethe-Universität: 93 Prozent aller älteren und alten Menschen in Frankfurt bleiben in ihren Wohnungen, die 65- bis 85-Jährigen leben im Durchschnitt (so eine Erhebung von 2013) seit 38 Jahren in derselben Wohnung, seit 40 Jahren im selben Stadtteil, seit 59 Jahren in Frankfurt. Dieses Beharrungsvermögen ist die Folie, auf der Nachdenken über Mobilität im Alter heute ansetzt.
Mobilität im Alter braucht aber nicht nur alte, sondern auch neue Gewohnheiten: einerseits ein gewohntes Umfeld, andererseits die Fähigkeit, neue Gewohnheiten herauszubilden und Bezugspunkte im Umkreis zu finden, die den neuen Bedürfnissen entgegenkommen. Zwei Drittel der außerhäuslichen Aktivitäten finden im Seniorenalter im Nahbereich – im Umkreis von fünf Kilometern – statt. Das ist zwar die gewohnte Umgebung, aber da der Lebensradius und die Bedürfnisse sich wandeln, fühlt man sich womöglich doch nicht mehr zu Hause. Je älter, umso mehr sind wir gemeinhin darauf angewiesen, dass das soziale Umfeld sich auf unsere Bedürfnisse einstellt. Der Busfahrer, von dem ich weiß, dass er wartet, bis ich mich hingesetzt habe, bevor er die Türen schließt und weiterfährt, ist für den Erhalt der Mobilität womöglich ebenso wichtig wie die Gehhilfe.
Mobilität ist abhängig von Gemeinschaft. Tatsache ist: Auch wenn Menschen gerne lange am selben Ort wohnen, können sie nicht von einer optimalen Anpassungsbereitschaft der Umwelt ausgehen, wenn sie bedürftig werden. Die Forderung nach Mobilität gilt also nicht allein für den älteren Menschen selbst, sondern ebenso für das Umfeld. Eine Kirche ohne Toilette grenzt Menschen aus. Eine lange Straße ohne Schattenplatz kann – gerade in Zeiten des Klimawandels – für ältere Menschen im Sommer ein unüberwindbares Hindernis sein.
Deshalb wird in den vergangenen Jahren verstärkt versucht, in den Stadtvierteln über Quartiersmanagement Anknüpfungspunkte und Anlaufstellen zu schaffen. Das Motto „Sorgende Gemeinschaft“ – „Caring Communities“ – steht im Zentrum des Siebten Altenberichts der Bundesregierung.
Mobilität ist Lebensqualität. Sie beginnt mit körperlicher Fitness, den sozialen Beziehungen, der Beweglichkeit im Kopf – und umgekehrt: Beweglichkeit im Kopf, eigene Vorstellungen und Ideen erhalten die körperliche Fitness. Denken, Fühlen und Wollen spielen ineinander – Lust und Neugier dürfen mitmischen.
So wie etwa beim Dreirad-Doppelsitzer. Damit können auch etwas weniger fitte Senior*innen gemeinsam durch die Welt radeln: zusammen in die Pedale treten oder sich fahren lassen inklusive der Möglichkeit, sich zwischendurch zurückzulehnen, ohne vom Sitz zu kippen. Die Lust, die Nase in den Wind zu halten, ist jedenfalls auch für das Fortkommen im Alter nicht zu unterschätzen.
Zum Weiterlesen:
https://www.siebter-altenbericht.de/
https://www.uni-frankfurt.de/54421039/Oswald-etal-2013-Hier-will-ich-wohnen-bleiben.pdf