Leben & Alltag

Lass uns zusammen alt werden

Wie verbindlich sind eigentlich Freundschaften? Anders als die Familie sucht man sich Freundinnen und Freunde selber aus. Man ist ihnen auch nicht zu ewiger Treue verpflichtet. Umso wertvoller sind Freundschaften, auf die man sich auch in schweren Zeiten verlassen kann.

Gute Freundschaften entstehen nicht über Nacht, sie brauchen Zeit, um zu wachsen. | Foto: Katarzyna Grabowska/unsplash.com
Gute Freundschaften entstehen nicht über Nacht, sie brauchen Zeit, um zu wachsen. | Foto: Katarzyna Grabowska/unsplash.com

Tina und ich wurden Freundinnen, bevor wir richtig sprechen konnten. In der Krabbelgruppe kamen unsere Mütter miteinander ins Gespräch, während Tina und ich, anderthalb Jahre alt, uns Legosteine hin- und herreichten. Irgendwann bauten wir bei ihr zu Hause Lego, aßen dann bei uns in der Küche Bananen und verbrachten später Stunden damit, unseren Stofftieren Namen zu geben. Seitdem ist manches passiert. Wir gingen zusammen in den Kindergarten, zur Grundschule, ins Gymnasium – und dann zum Studieren in verschiedene Städte. Wir fanden Berufe und bekamen Kinder. Die Freundschaft blieb. Vielleicht ist es auch mit zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren leichter, Liebeskummer, Familienstreit und Eheprobleme zu besprechen, wenn man mal zusammen in Gummistiefeln durch Matschpfützen gesprungen ist und im selben Zeltlager das erste Mal betrunken war. Ist es wirklich so einfach? Wahrscheinlich nicht.

Wer über die Freundschaft nachdenkt, stößt schnell auf große Worte. Griechen und Römer priesen sie als großes Gefühl, für Aristoteles war sie eine Tugend, ein moralisches Können und ein Weg zur Selbsterkenntnis. Und Cicero meinte: „Ich kann euch nur zureden, der Freundschaft vor allen anderen menschlichen Dingen den Vorzug zu geben.“

Sonja und Christa brauchten keine Pfützen und keine Legosteine, um sich kennenzulernen. Dafür spielten zwei nebeneinander liegende Balkons in einem Mietshaus im Rhein-Main-Gebiet und eine gemeinsame Angewohnheit eine Rolle: das Rauchen. Sonja ist jetzt 51, der erste Kontakt über die Balkonbrüstung fast acht Jahre her. Bald werden sich die beiden sogar einen Balkon teilen: Sonja wird demnächst mit Christa und deren Mann Jochen in eine WG ziehen. In Sonjas Wohnung zieht dann Christoph, ein alter Berliner Freund von Christa und Jochen. Im gleichen Haus wohnt außerdem Ralf, ebenfalls seit mindestens drei Jahrzehnten ein Teil des Freundeskreises. Das klingt wie eine Studierenden-Clique, betrifft in diesem Fall aber Menschen, die in einem anderen Lebensabschnitt stehen. Ihre Kinder sind erwachsen, manche haben sich von Partner:innen getrennt oder sind wieder neu liiert, aber in getrennten Wohnungen.

Freundschaft mit gemeinsamer Perspektive: Sonja (links) und Christa lernten sich als Nachbarinnen kennen.
Freundschaft mit gemeinsamer Perspektive: Sonja (links) und Christa lernten sich als Nachbarinnen kennen.

„Man muss schon ein bisschen mutig sein für so einen Schritt“, sagt Sonja, die ihren Freundeskreis inzwischen als „Wahlfamilie“ bezeichnet, „und man muss natürlich Glück haben, die richtigen Leute zu treffen, das ist ja nicht selbstverständlich.“ Es sei vergleichbar mit einer großen Liebe, bei der „es einfach passt“. Die fünf, alle zwischen Anfang 50 und Anfang 60, sehen sich fast täglich, quetschen sich schon mal alle zusammen auf einen Balkon und sind bereits in verschiedenen Konstellationen gemeinsam nach Irland gereist. Sie passen aufeinander auf, wenn jemand krank wird, spielen Doppelkopf und feiern Partys. Könnte man das schon eine Bedarfsgemeinschaft im rechtlichen Sinne nennen? Oder müssen wir die Kreise an Menschen, die sich auch im Alter unterstützen wollen, nicht endlich mal erweitern, und sei es gedanklich? Wird uns die Krise der Care-Arbeit nicht irgendwann sowieso dazu zwingen?

Vermutlich spielt der Zufall beim Entstehen von Freundschaften eine große Rolle. Der Psychologieprofessor Mitja Back aus Münster wollte herausfinden, welche Freundschaften sich unter Studierenden entwickeln, die neu an die Uni kommen. Den Studierenden wurden bei der Einführungsveranstaltung Plätze im Hörsaal zugewiesen. Ein Jahr später stellte sich heraus: Diejenigen, die nebeneinander oder auch nur in der gleichen Reihe gesessen hatten, waren enger miteinander befreundet. „Menschen bewerten andere spontan positiv, wenn sie sich in unmittelbarer Nähe befinden“, so Mitja Back. Also alles nur glückliche Fügung? Befreundete Mütter in der Krabbelgruppe, Balkons nebeneinander? Vielleicht, aber es braucht eben auch genau dieses Glück, den richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt zu begegnen. Erzwingen lassen sich solche Gemeinschaften nicht, höchstens wünschen.

Ich weiß nicht, ob Tina und ich ein so enges Team geworden und geblieben wären, wenn wir uns erst als Erwachsene kennengelernt hätten. Eine gemeinsame Vergangenheit schweißt zusammen, auch wenn sich Persönlichkeiten unterschiedlich entwickeln. Manchmal sehen wir uns nur zwei-, dreimal im Jahr. Aber wenn, dann reicht ein Stichwort, und wir reden stundenlang, als sei kein Tag vergangen. Wir waren einander Trauzeuginnen und sind Patentanten jeweils eines unserer Kinder.

Aber wie weit reicht so eine Freundschaft? Kann sie so verbindlich sein wie eine Familie? Würden Tina und ich einander zum Beispiel pflegen, im Fall von Krankheit oder Demenz? Ehrlich: Ich weiß es nicht. Aber wer weiß das schon? Im Gegensatz zur Familie werden Freundschaften aus freien Stücken geschlossen. Sie beruhen nicht auf Blutsverwandtschaft oder rechtlichen Vereinbarungen wie Heirat oder Adoption. Laut dem Soziologen Janosch Schobin von der Universität Kassel ist harte, körperliche Pflege oft der Moment an dem Freunde im Gegensatz zur Familie aussteigen. Allerdings sind hier auch Familienmitglieder meist überfordert. Wirklich körperliche Pflege braucht eine gewisse Professionalität. Aber der Hilfebedarf beginnt ja viel früher: Unterstützung bei Haushalt und Bürokratie oder die Begleitung zu Ärzten.

Würden Christa, Jochen, Sonja, Ralf und Christoph auf diese Weise im Alter füreinander sorgen? „Unser Lebensmodell mit dieser WG und den Freund:innen im selben Haus oder nebenan ist durchaus auf Dauer ausgelegt“, sagt Christa. „Es ist ein Wagnis mit der WG, aber ich dachte, wenn ich es nicht versuche, werde ich nie herausfinden, was daraus wird“, meint Sonja.

Davon abgesehen, dass eine Wohngemeinschaft finanziell günstiger ist, mag Christa auch den Gedanken, ihre Kinder ein bisschen aus der Verantwortung zu nehmen: „Sie wissen, da sind Menschen, die sich um uns kümmern, auch in Krisen, und auch dann, wenn wir vielleicht nicht mehr so mobil sind.“

Jetzt kommt aber erst mal Weihnachten, und diesen Tag haben zumindest Christa und Jochen schon seit langer Zeit im Kreis von Freund:innen gefeiert – ganz untraditionell mit mehreren Tischen, an denen Doppelkopf gespielt wurde. Aufs Schrottwichteln freuen sich schon alle, sie haben eben ihre eigenen Rituale gefunden. „Es ist doch ein Grundbedürfnis, nicht allein zu sein“, meint Sonja, „und es würde vielen die Einsamkeit nehmen, sich auf solche Modelle einzulassen“


Autorin

Anne Lemhöfer 147 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de