Inklusiv zum Hauptschul- oder Ausbildungsabschluss
Bevor sich um 10 Uhr der Rolladen des Schulkiosks an der Philipp-Holzmann-Schule hebt, gibt es eine Frühstücksrunde für das Küchen- und Serviceteam der Beruflichen Schule. Ein Nutella-Glas wird über den Tisch gereicht, die Käseplatte, vernehmbar ist nur das Aufschneiden der knusprigen Brötchen. Die meisten an dem Tisch sind gehörlos oder schwerhörig. Mit Gesten in der Deutschen Gebärdensprache (DGS) verständigen sie sich, auch Anleiterin Anke Hügl-Botta formt die Finger zum Dialog.
„Bistro Rotschild“ steht über dem Rolladen des Pausen- und Mittagessensangebots, das zum Projekt Rothschild des Lernbetriebs des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit in Frankfurt am Main e.V. gehört. Es handelt sich um ein inklusives Ausbildungs- und Qualifizierungsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 27 Jahren in Kooperation mit der Frankfurter Stiftung für Gehörlose und Schwerhörige. Alle, die mitmachen, erlernen die Gebärdensprache.
Fünf männliche, sieben weibliche Jugendliche und junge Erwachsene sind derzeit an dem Schulstandort im Westend in der Ausbildung, sechs streben in diesem Jahr den Hauptschulabschluss an, vier im kommenden. Zwei Drittel der 22 Projektteilnehmer:innen hier sind im Hören zumindest deutlich eingeschränkt, ein Mitglied des Teams hat Down-Syndrom, berichtet Anke Hügl-Botta. In dem Projekt kann der Hauptschulabschluss erworben, eine Ausbildung zum „Fachpraktiker:in Küche“ – der frühere Beikoch – absolviert und der Titel „Fachkraft Gastgewerbe“ erworben werden, erläutert die Ausbildungsanleiterin.
Drei Standorte gehören zu dem Projekt Rothschild des Lernbetriebs, einer davon ist der Sitz der Frankfurter Stiftung für Gehörlose und Schwerhörige an der Rothschildallee in Frankfurt-Bornheim, daher der Name. Die Jugendlichen des Projekts catern einmal in der Woche für den Altenclub, der sich dort trifft. Menschen, die zeitlebens schwerhörig waren, bilden den Kern. Sie freuen sich über junge Servicekräfte, die die Gebärdensprache beherrschen.
Ein weiterer Standort des Projekts Rothschild ist das Café iZi an der Rechneigrabenstraße in der Innenstadt. Das Café ist im Zentrum für Jugend und Migration angesiedelt, das viele Beratungsangebote für neu zugewanderte Jugendliche bereithält. 60 bis 200 Essen werden an den einzelnen Tagen von dem Team in der Philipp-Holzmann-Schule gekocht und an verschiedenen Stellen ausgegeben. Vegetarisches bestimmt das Angebot und Nachhaltigkeit, „wir werfen nichts weg“, so Hügl-Botta. Was in der Küche nicht genutzt werden kann, landet zu Dünger verarbeitet im Kräutergarten der Schule.
Anke Hügl-Botta kennt Gastronomie und Service aus vielerlei Perspektiven, gelernt hat sie Hotelfach, später eine Discothek geführt. Als die Tochter kam, zog sie aufs Land, dort hat sie einen Tagestreff für Demenzkranke geleitet. Später ging Hügl-Botta wieder nach Frankfurt, fand bei einem Unternehmenscaterer eine Anstellung. Vor sechs Jahren kam sie zum Lernbetrieb. Eine Nachbarin erzählte der Gastro-Fachfrau von der Einrichtung, sie war in Wechselstimmung, „Ich wollte was Sinnvolleres machen“. Anke Hügl-Botta hat sich bei der IHK als Ausbilderin zertifizieren lassen „und eine Fremdsprache gelernt, Gebärdensprache“.
Die resolute 50-Jährige, herzliches Lachen, eine Vielzahl an Schmetterlingen und Blumentattoos schmückt den rechten Unterarm, ist eine, die sichtlich zupacken kann. Jugendliche wie Sanjib, der dieser Tage seinen Abschluss „Fachkraft Küche“ geschafft hat, vorher absolvierte er im Café iZi des Evangelischen Vereins den Hauptschulabschluss, vertrauen ihr. Er hat einen Plan entwickelt, Hügl-Botta gibt ihm noch Tipps für die Bewerbung bei einem Großunternehmen. Neben Sanjib sitzt Mohamed im Rothschild-Bistro, er ist aus Syrien geflohen, eine dort unbehandelte Infektion hat ihn sein Gehör gekostet. Er ist im ersten Lehrjahr, macht eine Ausbildung zum Fachpraktiker Küche. Hügl-Botta ist zuversichtlich, auch er wird seinen Weg gehen.
Förderung von Geist, Emotion und Körper
Evelyn Rogowski, Leiterin des Arbeitsbereichs Jugendberufshilfe des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit, nennt das Projekt Rothschild ein „Leuchtturmprojekt“. Sie weist darauf hin, dass es das einzige inklusive Projekt dieser Art in Frankfurt und Umgebung ist. „Es hat sich sehr erfolgreich entwickelt. Wir haben viele Anfragen von Jugendlichen, mehr als wir aufnehmen können.“ Das inklusive Team der Mitarbeitenden setze sich mit viel Engagement ein. Dieser Tage stehen die Prüfungen an: „Unsere Quoten bezüglich der Gesellenprüfungen und Hauptschulabschlüsse sind gut. In dem Projekt Rothschild zeigt sich, dass unser inklusiver Weg und das Projektkonzept erfolgreich sind.“ So würden die jungen Menschen unterstützt, einen Weg in eine berufliche Zukunft zu finden. Finanziert wird das Projekt Rothschild über Mittel der Stadt Frankfurt, über Gelder aus dem Ausbildungs- und Qualifizierungsbudget des Landes Hessen, Verkaufserlöse, Eigenmittel, Spenden- und Stiftungsmittel.
Im Café iZi an der Rechneigrabenstraße bereiten sich gegenwärtig acht Jugendliche auf den Hauptschulabschluss vor. „Wir haben schon über die Kleidung gesprochen“, fürs große Abschlussfest am Tag der Zeugnisvergabe, erzählt die Pädagogin Amela Kruck.
Die jungen Erwachsenen sind umfassend vorbereitet, durch Lernstoff, dank intensiver pädagogischer Begleitung. Emotional, körperlich, geistig legen Kruck und die Fachanleiterin Marissa Piattello die Förderung an. Die Jugendlichen sind auch andernorts bei Praktika im Einsatz, bei der Tafel beispielsweise, in der Altenpflege oder in Kitas, berichtet Kruck. „Da kriegen sie gute Einblicke.“ Natürlich gehören der Schulstoff und das entsprechende Büffeln zum Programm.
„Ich komme gerne hierher, das habe ich noch nie erlebt“, erzählt Soufiane. Der 21-Jährige hat eine Reihe von Schullaufbahnen abgebrochen, jetzt kann er davon ausgehen, am 11. Juli seinen Hauptschulabschluss in der Hand zu halten. Wenn es mal gekriselt hat, auch privat, hat er ein offenes Ohr gefunden und er hat durchgehalten, war pünktlich, freundlich hinterm Tresen und beim Service am Tisch.
Piattello hat einst im Projekt Rothschild als eine der Hörenden den Abschluss zur Fachkraft Gastgewerbe erworben, sich weitergebildet, auf dem Arbeitsmarkt einen Job gefunden. Aber sie wollte zurück, anderen Jugendlichen etwas weitergeben. Heute zeigt sie, wie Arbeitsalltag und externer Hauptschulabschluss gelingen können. Sie ist in die Mitarbeitervertretung des Evangelischen Vereins für Jugendsozialarbeit gewählt worden.
Von Montag bis Freitag sorgt Marissa Piattello für die Abläufe, hält die Jugendlichen in Schwung, eines der Specials sind ihre Barrista-Workshops. Die Anleiterin demonstriert an der italienischen Profimaschine des iZi die Kunst des Kaffeekochens und regt zum Nachmachen an. Eine Anstellung in einem Café könne für manche eine Perspektive sein, meint Piattelo. Für Soufiane jedenfalls, ihm macht der Umgang mit der Kundschaft Spaß. Erstmal aber ist er stolz, „ich habe Englisch rasiert“.