„Ich lebe und erlebe jeden Tag“
Es ist viertel nach elf. Margarete K. (Name geändert) hat gerade ihr Frühstück beendet. Lange zu frühstücken genieße sie sehr, sagt sie. Das habe sie schon immer gerne gemacht. Die 65-Jährige lebt seit fast sechs Wochen im Evangelischen Hospiz in Frankfurt am Main. Sie hofft, dass sie in wenigen Wochen noch ihren 66. Geburtstag erleben darf. Doch gewiss ist das nicht.
K. leidet an Leberkrebs. Die Krankheit hat ihr Leben vom einen auf den anderen Tag grundlegend verändert. Wie sie sich entwickeln wird, weiß sie nicht. Sie wolle es auch nicht wissen, sagt sie. „Ich lebe und erlebe jeden Tag.“ Die ehemalige Erzieherin geht oft raus, spaziert am Main entlang oder trinkt einen Kaffee in der Stadt. Manchmal sei sie drei Stunden unterwegs, erzählt sie. „Das ist für mich eine ganz große Freiheit.“
Im Krankenhaus, wo sie zuvor behandelt wurde, durfte sie nicht einmal die Station verlassen. Man habe ihr nicht zugetraut, sich frei zu bewegen. Im Hospiz sei das anders. Sie könne eigenständig entscheiden, wie sie lebt.
Die schwerkranke Frau fühlt sich gut betreut im Evangelischen Hospiz. Doch vor allem fühle sie sich sicher, sagt sie. Sie trägt einen kleinen roten Notknopf mit sich. Drückt sie ihn, wird ihr geholfen - uns zwar so, wie sie sich das wünscht, wie sie betont. Gerade für die Nächte gebe ihr das ein gutes Gefühl.
Im Hospiz sollen die Menschen Lebensqualität erfahren, erklärt die Geschäftsführerin des Hospizes, Dagmar Müller. Zunächst lindern die Ärztinnen und Ärzte Krankheitssymptome wie Atemnot, Unruhe, Übelkeit oder starke Schmerzen. Danach entscheiden die Patienten selbst, welche Angebote sie im Hospiz annehmen und welche nicht. „Die Bedürfnisse sind ganz unterschiedlich“, sagt Müller. Für manche bedeutet Lebensqualität, ein Museum zu besuchen. Andere genießen eine kleine Mahlzeit oder ein Glas Wein, und wieder andere möchten einfach ihre Ruhe haben.
Das Hospiz in der Rechneigrabenstraße öffnete seine Türen im November 2009, seitdem wurden dort nach Angaben der Evangelischen Öffentlichkeitsarbeit mehr als 1.500 Patientinnen und Patienten aufgenommen. Acht niedergelassene Ärzte kümmern sich um deren schmerzmedizinische Versorgung. Zum Team gehören auch Therapeuten und Pflegekräfte, ein Seelsorger, Hauswirtschafterinnen und Ehrenamtliche. Seit 2009 sei die Zahl der Betten von sechs auf zwölf gestiegen und die Zahl der Vollzeitstellen in Pflege und Hauswirtschaft von elf auf 20,5.
„Tod und Abschied gehören zum Leben dazu“, sagt Müller. Allerdings würden Abschiede immer mehr aus unserer Gesellschaft verdrängt. So gestalteten beispielsweise immer weniger Menschen eine Trauerfeier, obwohl dieses Ritual wichtig sei, um abschließen zu können. Doch nicht nur der Tod bringe Abschiede, auch das Ende von Beziehungen und Freundschaften bedürfe eines angemessenen Abschlusses. „Das hat etwas mit Beziehungsgestaltung zu tun. Ob ich das aushalte, dass etwas zu Ende ist. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, miteinander zu reden und zu trainieren, über Gefühle und Befindlichkeiten zu reden, auch wenn ich dadurch verletzbar bin“, sagt die 56-Jährige.
Doch es ist unter anderem der Fortschritt der medizinischen Entwicklung, der ein Abschiednehmen erschwert. Vor zehn Jahren verbrachten die Patienten im Schnitt 30 Tage im Evangelischen Hospiz, heute sind es nur noch 24 Tage. Das liege daran, dass die Menschen länger in Krankenhäusern therapiert werden, ohne dass dies zu mehr Lebensqualität führe, erklärt Müller. „Im Krankenhaus wird nicht unbedingt über das Sterben gesprochen. Dann gibt es oft einen Bruch, wenn der Arzt sagt, er könne nichts mehr tun. Viele Menschen haben Schwierigkeiten, diesen Prozess dann so schnell zu verarbeiten.“
Die Hospizbewegung setzt nicht auf Lebensverlängerung, sondern betont das Sterben als natürliche Lebensphase. Die Patienten sollen bis zu ihrem Tod ein selbstbestimmtes Leben führen und die Möglichkeit haben, geborgen, schmerzfrei und in Würde sterben zu dürfen. Aus diesem Grund seien Hospize auch der einzige Bereich im Gesundheitswesen, in dem die Betroffenen nichts zuzahlen müssen, berichtet Müller. Der Tagessatz von 446,71 Euro wird zu 95 Prozent von Pflege- und Krankenversicherung getragen, fünf Prozent der Kosten werden vom Hospiz selbst übernommen. Seinen Eigenanteil finanziert das Hospiz durch den Förderverein, durch Zuschüsse der evangelischen Kirche und Spenden.
Margarete K. schätzt die Liebenswürdigkeit des Pflegepersonals und wünscht sich, dass das Thema Hospiz mehr in die Gesellschaft hinausgetragen wird. K. war vor ihrer Krankheit im ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst tätig. Sie hat ein sterbenskrankes Mädchen und ihr gesundes Geschwisterkind betreut. Nun ist sie selbst Patientin. Solange man selbst lebt, sterben immer nur die anderen. Doch man sollte sich bewusst sein, dass auch das eigene Leben endlich ist – jeden Tag.
Weiterlesen: Unser Interview mit Hospiz-Leiterin Dagmar Müller
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