Dagmar Müller über zehn Jahre Hospiz: „Das Sterben ist so normal wie die Geburt…“
Zum 10jährigen Bestehen des Evangelischen Hospiz Frankfurt findet am Samstag, 12. Oktober 2019, um 14 Uhr ein Festgottesdienst in der Weißfrauen Diakoniekirche im Bahnhofsviertel, Weserstraße 5, statt. Er wird gestaltet von Prodekanin Ursula Schoen und dem Hospiz-Team. Am Samstag, 23. November, gibt es in der Evangelischen Akademie, Römerberg 9, ein Hospiz-Forum von 10-17 Uhr zum Thema "Wie knüpfen wir das Netz, das uns tragen soll?". Weitere Informationen rund ums Jubiläum auf der Webseite des Hospiz.
Frau Müller, kann man Menschen die Angst vor dem Tod nehmen?
Wir können im Hospiz die Angst vor Tod und Sterben lindern, indem wir zu den Patientinnen und Patienten Vertrauen aufbauen und sie in ihren Bedürfnissen ernst nehmen. Oft geht es weniger um die Angst vor dem Tod, als um Angst vor den Begleiterscheinungen – Schmerzen, Übelkeit, Atemnot. Die können wir lindern. Die meisten Patientinnen und Patienten sind schon sehr lange krank, wenn sie zu uns kommen, die haben Krankenhausaufenthalte, Operationen und Chemotherapien hinter sich. Wir können zum einen pflegerisch helfen. Wenn jemand nicht schlafen kann oder Schmerzen hat, können wir zu jeder Tages- und Nachtzeit medikamentös eingreifen. Wir haben einen Seelsorger im Haus, für Gespräche gibt es einen eigenen Raum. Die Menschen möchten nicht sterben, aber viele wollen über das Sterben sprechen.
Mit dem Evangelischen Hospiz in der Rechneigrabenstraße feiern sie im Herbst zehnjähriges Bestehen. Was hat sich seit 2009 für Sie verändert?
Die Menschen kommen erst zu einem späteren Zeitpunkt zu uns. Anfangs betrug die durchschnittliche Verweildauer etwa 30 Tage, mittlerweile sind es nur noch 24. Das hat damit zu tun, dass sterbenskranke Menschen immer länger therapiert werden in den Krankenhäusern. Es wird alles getan, um den Tod hinauszuzögern, jede kleine Chance auf eine minimale Besserung des Zustands durch eine weitere Chemotherapie oder Bestrahlung wird genutzt. Ein Gewinn von Lebensqualität ist damit oft nicht verbunden. Wir müssen wieder lernen zu akzeptieren, dass der Tod zum Leben gehört. Früher kamen viele Patientinnen und Patienten zu Fuß ins Hospiz. Heute erleben wir das kaum noch. Die meisten sind bettlägerig, schwerstpflegebedüftig und können sich kaum noch selbst äußern.
Wer kommt zu Ihnen?
Menschen auf dem letzten Lebensabschnitt, ganz unterschiedlich alt. Wir hatten schon Patientinnen und Patienten von Mitte 20, aber auch eine Hundertjährige. Das Durchschnittsalter liegt bei 73. Manche bleiben nur wenige Tage, manche fast ein Jahr. Die meisten Menschen wollen zuhause sterben. Das ist aber nicht immer möglich, und es überfordert in manchen Fällen auch die Angehörigen. Im Hospiz können wir eine 24-Stunden-Palliativpflege bieten. Unser Pflegeteam ist für die speziellen Belange von Sterbenden ausgebildet.
Mit welchen Problemen haben todkranke Menschen zu kämpfen?
Mit akuter Luftnot zum Beispiel. Dagegen kann man Morphin geben, subkutan oder intravenös. Unser Pflegepersonal ist dazu auch befugt, nach Anordnung des Arztes eigenverantwortlich und sofort zu handeln. Menschen mit einem Gehirntumor durchleben teils heftige Unruhezustände, sie verlassen das Bett, wissen nicht mehr, wo sie sind. Auch auf solche Situationen sind die Pflegenden vorbereitet. Wir arbeiten mit einem festen Team von acht in Palliativmedizin weitergebildeten Hausärztinnen und Hausärzten zusammen. Historisch gesehen ist die Begleitung Sterbender übrigens keine Sache von Ärzten. Wenn es ans Sterben ging, wurde der Arzt weggeschickt, sein Auftrag lag in der Heilung.
Wer bezahlt den Aufenthalt im Hospiz?
Zu 95 Prozent übernehmen mittlerweile die Krankenkassen die Kosten. Fünf Prozent steuert der Träger bei, das ist bei uns das Evangelische Hospiz selber. Wir sind daher auf Spenden angewiesen. Die Hospizbedürftigkeit wird von einem Arzt überprüft und bescheinigt, die Diagnostik muss abgeschlossen und es muss klar sein, dass die Krankheit nicht mehr heilbar ist. Wichtig ist für uns der Förderverein, der eng mit dem Frankfurter Rotary Club zusammenarbeitet und etwa 200 Mitglieder hat, darunter auch zahlreiche Angehörige ehemaliger Patientinnen und Patienten. Es können auch zusätzlich Dinge angeschafft werden, die die Lebensqualität im Hospiz steigern.
Welche sind das?
Dazu zählen zum Beispiel kleine, tragbare Schmerzpumpen oder spezielle Pflegebetten, oder die Installation einer Musikanlage, W-LAN in allen Zimmern, was als Kommunikationsmittel für viele Patienten heute sehr wichtig ist für Internet, Skype, die sozialen Netzwerke. Außerdem unterstützt der Verein Supervisionen und Fortbildungen, um das Hospizteam, also Pflegekräfte und Hauswirtschafterinnen, für ihre Aufgaben zu stabilisieren. Einen entscheidenden Beitrag leistet außerdem das Team der Ehrenamtlichen.
Wie helfen die Ehrenamtlichen?
Es gibt immer mehr Menschen ohne soziales Netz. Sie haben in Frankfurt keine Angehörigen, auch die Freundinnen und Freunde wohnen weit verstreut. Nicht alle bekommen regelmäßig Besuch. Und nicht alle wollen das. Manche möchten einfach ihre Ruhe, das respektieren wir natürlich auch. Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer leisten Gesellschaft, wenn es gewünscht wird. Oder sie gehen mit den Kranken spazieren – durch den nahen Anlagenring oder auf die Zeil. Manche wollen nochmal etwas Bestimmtes kaufen – ein teures Parfüm, einen speziellen Whiskey, eine Wurst aus dem Feinkostladen. Oder sie wollen nochmal ein Bier trinken gehen. Einmal verlangte eine Frau in der Nacht, in der sie später starb, noch nach einem Capri-Eis. Auch das konnte besorgt werden. Ein anderer Mann, er war Autohändler gewesen, wünschte sich, von seiner Frau nochmal in seinem neuen Sportwagen herumgefahren zu werden. Wir haben den Mann im Rollstuhl bis ans Auto herangefahren und ihm beim Ein- und Aussteigen geholfen. Den einen großen Wunsch können wir den Menschen allerdings nicht erfüllen: nicht zu sterben und weiterleben zu dürfen.
Was sind Ihre Wünsche für die Zukunft der Palliativpflege?
Ich wünsche mir, dass Sterben als ein Teil des Lebens gesehen wird. Es ist eine normale Lebensphase, so normal wie die Geburt. Aber es ist auch eine einmalige Phase, in der das Leben an Dramatik zunimmt und sich viele Lebensthemen noch einmal bündeln. Die Menschen müssten sich viel mehr damit auseinandersetzen, mit Ihren Angehörigen darüber reden, wie sie diese letzte Zeit gestalten wollen, was ihnen wichtig ist. Denn sie wird kommen. Es sterben ja nicht nur die Anderen.
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