Ein Bund fürs Leben: Noch nie waren sich Großeltern und Enkel so nah wie heute
Am 13. Juli 2013 hatte Claudia Volpp plötzlich so ein
Gefühl. „Komm, wir rufen mal bei Larissa an“, sagte sie zu ihrem Mann Michael.
Ans Telefon ging Larissas Mann Murat. „Ihr seid vor einer Minute Großeltern
geworden“, sagte er, angestrengt und gerührt. Dreieinhalb Wochen zu früh, aber
topfit war die kleine Anna auf die Welt gekommen. Das war der Moment, in dem
aus Claudia, die heute 61 Jahre alt ist, und Michael Volpp, 63, „Oma Claudi“
und „Opa Micha“ wurde. Rollen, die sie seither mit großer Freude ausfüllen.
Die beiden leben im Frankfurter Stadtteil Oberrad (oder „Omarad“, wie Anna als Zweijährige sagte), Larissa und Murat Doğan wohnen in Ehringshausen bei Wetzler. 84 Kilometer liegen zwischen Großeltern und Enkelinnen – 2015 stieß noch Marie zur Familie dazu -, was die Beziehung aber nicht weniger innig macht. Wer Anna und Marie durchs Wohnzimmer von Oma und Opa toben sieht, der ahnt, dass sich die beiden dort fast zuhause fühlen. Wenn Michael Volpp Anna mit großer Geduld ein ums andere Mal auffängt, als sie vom Sofa springt, oder Claudia Marie ein kleines Büchlein über Dinosaurier vorliest, merkt man deutlich: Hier gehören vier Menschen zusammen.
Sind die Volpps eine Ausnahme? Keineswegs. Tatsächlich waren sich Großeltern und Enkel niemals in der Geschichte näher als heute. Sie verbringen laut Studien mehr gemeinsame Zeit als früher, ihr Kontakt ist persönlicher, und sie kommen besser miteinander aus. Die neue Innigkeit der Generationen hat vermutlich viele Gründe, zuerst einmal demografische: Nie zuvor konnten sich so viele Großeltern so intensiv um ihre Enkel kümmern wie heute. Während Oma und Opa Anfang des 20. Jahrhunderts ein halbes Dutzend Enkelchen mit Zuwendung bedenken musste, wetteifern nun oft mehrere Großeltern um die Gunst eines oder zweier Kindeskinder. Dank der längeren Lebenserwartung haben sie mehr gemeinsame Zeit denn je. Laut einer Betreuungsstudie des Deutschen Jugendinstituts verbringt jedes dritte Kind im Alter bis zu drei Jahren mindestens einmal die Woche ein paar Stunden bei Oma oder Opa. Als Babysitter setzen sogar zwei Drittel der Eltern ab und zu ihre eigenen Väter und Mütter ein – was wohl mit der wachsenden Zahl an Doppelverdiener-Paaren zu tun hat.
Ein bis zweimal im Monat kommen Anna und Marie zu Besuch nach Frankfurt. „Das ist schön, aber manchmal auch ganz schön turbulent“, sagt Claudia Volpp. „Die Beziehung war von Anfang an ganz intensiv.“ Das freut auch die Eltern: „Man bekommt ein bisschen Luft zum Durchatmen“, sagt Murat Doğan. „Und die Kinder haben auch mal Ruhe von uns“, fügt er lächelnd hinzu. Was unterscheidet das Großelternsein vom Elternsein? „Eigentlich gar nicht so viel“, findet Michael Volpp. „Wir haben unsere beiden Kinder und auch die Enkelinnen immer ernst genommen, wir haben nie in Babysprache mit ihnen geredet und sie Dinge entscheiden lassen – zum Beispiel, wie sie die Nudeln haben möchten.“ Aber natürlich könnten sie das Zusammensein mit Anna und Marie viel entspannter genießen als Großeltern. „Man hat nicht dauernd im Hinterkopf, was alles noch ansteht, dass man gleich irgendwo hin muss, sondern kann sich voll und ganz auf das Hier und Jetzt mit den Kindern konzentrieren, das ist das Privileg der Großeltern“, sagt Claudia Volpp. „Und natürlich: Sie gehen irgendwann wieder nach Hause, dann können wir uns ausruhen. Für die Eltern ist das nicht so einfach möglich.“
Nein, es passen nicht alle Großeltern in dieses idyllische Bild, wie es sich bei Volpps und vielen anderen Großmüttern und –vätern präsentiert. Sozialforscher unterscheiden durchaus verschiedene Typen, darunter die Gruppe der „freundlich-distanzierten“ Großeltern. Sie halten sporadisch Kontakt zu den Enkeln – auch, weil sie finden, dass sie ihre Betreuungspflichten schon als Eltern erfüllt haben. Ab und zu auf den Spielplatz: ja, regelmäßige Babysitterdienste: nein. Insgesamt gehöre die Großeltern-Rolle „zu den wenigen positiv besetzten Altersbildern“, sagt François Höpflinger. Der Züricher Soziologe hat zum Verhältnis der beiden Generationen rund 700 Schülerinnen und Schüler und 500 ihrer Großeltern in der Schweiz befragt. Auf beiden Seiten betonten mehr als neun von zehn Befragten, wie wichtig ihnen ihre Beziehung sei. Lange haben sich Sozialwissenschaftler nicht besonders für die dritte Generation im Familiengefüge interessiert – wahrscheinlich sind die rund 14 Millionen Großväter und Großmütter jedoch die gesellschaftlich am meisten unterschätzte Gruppe. Und ein ganz wichtiger Anker für moderne Familien.
Wie viele der Großelterngeneration verfügen die Volpps über einen Schatz, der gerade in zeitgenössischen Doppelverdiener-Familien sehr kostbar ist: Zeit und Ruhe. Wie ein doppelter Boden sichern Oma Claudi und Opa Micha den Alltag der Kernfamilie. Heiligabend wollen alle zusammen verbringen: Larissa und Murat, Anna und Marie, Claudia und Michael, und Sohn Felix Volpp mit seiner Frau. Die Choreografie des Fests ist seit der Kindheit von Larissa und Felix gleich geblieben: Am Weihnachtsmorgen wird erst der Baum aufgestellt, dann die Krippe. Dann schmücken alle gemeinsam den Baum, später geht es in die Kirche. In diesem Jahr kann die vierjährige Anna schon richtig mithelfen. „Und Marie darf natürlich auch den einen oder anderen Strohstern an den Baum hängen“, verspricht Claudia Volpp. Die Familie ist sich sehr nah, schon lange haben sie eine Familiengruppe bei WhatsApp – damit alle über alles Wichtige informiert sind, auch wenn sie sich gerade nicht sehen. Da ist zum Beispiel der kleine Igel in Omas und Opas großem Garten in „Omarad“. Den haben sie vor einigen Monaten gefunden, klein und hilflos, kaum 100 Gramm schwer. Heute wiegt er fast ein Kilo und flitzte bis vor kurzem durchs Gras. Nun macht er Winterschlaf, das wissen auch Anna und Marie schon. Was ist das Schönste am Großelternsein? „Zu sehen, wie die Kinder wachsen und immer neue Antennen ausklappen“, sagt Claudia Volpp. Auch Michael muss nicht lange überlegen: „Ich lese am liebsten vor.“ Von Dinosauriern und Kater Findus. Und bald natürlich die Weihnachtsgeschichte.
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