Die Wohnung meiner Tante
Ich saß am Schreibtisch meiner Tante und hatte einen Stapel Tagebücher vor mir liegen. Durfte ich darin lesen? Ging mich das eigentlich etwas an? Meine Tante war vor Kurzem mit 82 Jahren gestorben. Sie war die Schwester meines Vaters, der schon lange nicht mehr lebte, und meine Geschwister und ich hatten sie sehr geliebt. Sie war einfach großartig gewesen.
Und jetzt saßen wir in ihrer Wohnung. Ein paar alte Möbel und andere schöne Stücke hatten wir schon unter uns aufgeteilt, das war uns nicht schwergefallen. Aber es war ein komisches Gefühl, die Wohnung so auseinanderzunehmen. Als ob man ein Leben zerteilen würde. Das ist nicht schön. Aber es musste sein. In einem Monat sollte die Wohnung weitervermietet werden.
Meine Tante hatte sich gewünscht, dass wir ihre Sachen mit Würde behandeln. Das versuchten wir nach besten Kräften. Wäsche und Kleider hatten wir einer Freundin gegeben, die sie an Bedürftige weiterverschenken wollte. Geschirr und Küchenkram ging an meine Neffen und Nichten. Einige Bücher und CDs behielten wir, andere wollte ein Freund auf dem Flohmarkt verkaufen. Wir kamen also ganz gut voran.
Aber dann fand ich die Aufzeichnungen. Meine Tante hatte als junge Frau nicht studiert und deshalb nach ihrer Pensionierung ein Nachholbedürfnis. Zusammen mit einer Freundin, die Politikwissenschaftlerin war, hatte sie sich mit Amerika, China und dem Islam beschäftigt. Davon hatte sie oft begeistert erzählt. In einer Schublade entdeckte ich ihre Aufzeichnungen und Lektürelisten.
Da packte es mich. Da lebt ein Mensch sein Leben, bildet sich aus, sammelt Erfahrung, lernt noch im Alter, ist gebildet und großherzig – und dann auf einmal weg. Warum muss das so sein? Die Brutalität des Todes ist schwer zu verstehen. Was hat Gott sich dabei gedacht?
Die Tagebücher habe ich schließlich noch mit meiner Mutter gelesen. Eins oder zwei haben wir aufgehoben, zusammen mit alten Briefen, die meine Tante an ihre Eltern geschrieben hat. Also nur die Essenz. Entrümpeln nach dem Tod ist nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch Seelenarbeit, Trauerarbeit.
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