Leben & Alltag

Dankbarkeit passt nicht in die Leistungsgesellschaft. Deshalb ist sie wichtiger denn je.

Wir brauchen einander. Wir sind nicht perfekt. Viele Erkenntnisse stecken im einfachen Danke. Es ist ein großes Wort.

Foto: Antje Schrupp
Foto: Antje Schrupp

Danke für diesen guten Morgen, danke für jeden neuen Tag, danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag ...“ Ob Kindergottesdienst, Konfirmandenstunde, Religionsunterricht, Gemeindefreizeit: Ohne das Lied „Danke“ des Komponisten Martin Gotthard Schneider ist eine Jugend mit kirchlichen Berührungspunkten seit den 1960er Jahren nicht denkbar. Auch nicht ohne das leichte innerliche Augenrollen beim 167sten Danke-Marathon. Gedankt wird in sechs Strophen unter anderem für gute Freunde, die Arbeitsstelle, jedes kleine Glück, manche Traurigkeiten, das Frohe und Helle, die Musik.

Ist es denn nicht irgendwann auch mal gut? Wie passt so ein Dankedankedanke zum Selbstbild einer denkenden Heranwachsenden? Haftet der allzu ausufernden Dankesrede außerhalb der Oscar-Verleihung („Ich danke meinen Eltern, meinen Geschwistern, meiner Crew, dem Produzenten, Gott, meinem Agenten und natürlich der Academy ...) nicht immer auch etwas nahezu Unterwürfiges an? Oder sogar etwas Eitles? Seht her, ich vergesse wirklich niemanden und nichts?

Immerhin schaffte es „Danke für diesen guten Morgen“ als bisher einziges Kirchenlied 1963 wochenlang in die deutschen Charts und wurde weltweit in mehr als 25 Sprachen übersetzt. Längst ist es im Evangelischen Gesangbuch aufgenommen und auch in katholischen Werken zu finden. Die Band „Die Ärzte“ brachte in ihren Anfangsjahren Text und Melodie in einer Punkfassung auf den Markt. Einen Nerv scheint das Danken schon mal zu treffen. Aber ist es überhaupt noch zeitgemäß?

Danke für dieses Billigschnitzel?

Wenn wir im Erntedankgottesdienst Gott für Mais und Kartoffeln, Äpfel und Roggenbrot, Salatgurken und Pflaumenmus danken, ist das eine berührende Geste, die jedes Kind versteht. Und es unterstreicht, dass es auch im Jahr 2020 keinesfalls selbstverständlich ist, jeden Tag satt zu werden. „Alle guten Gaben, alles was wir haben, kommt, Gott, von dir, wir danken dir dafür, Amen. Guten Appetit!“, beten schon die Kindergartenkinder, bevor Frikadelle und Kartoffelbrei auf die Gabel dürfen. Auch wenn der stets volle Teller und das gut gefüllte Supermarktregal nicht nur Gottes freundlicher Gnade, sondern ebenso einer dunklen Seite des menschlichen Wirtschaftens entspringen.

Danke für dieses Billigschnitzel? Danke für diese Toastbrot-Packung? Danke für diesen leckeren Palmöl-Brotaufstrich? Danke für große Schlachthöfe, danke für die Ausbeutung der Menschen in den Ländern des Südens? Mit einem einfachen Danke ist eben nicht alles gesagt. Essen ist politisch, was viele Erntedankpredigten in diesen Tagen bestimmt auch thematisieren werden. Gott gibt, und der Mensch verbockt es doch wieder. Na danke.

Danke sagen hat uns schon als Kinder genervt

Danken ist auch ein Gesellschaftsspiel, das uns schon als Kinder genervt hat. „Komm, sag danke zu der Frau“, hörten wir, als wir uns gerade in stiller Freude auf den ersten Biss in die Gelbwurstscheibe ergingen, die uns die nette Metzgerin über die Theke gereicht hatte. „Danke“, murmelt das Kind kaum hörbar, und die Wurst schmeckt gleich nicht mehr ganz so gut in dem Bewusstsein, etwas falsch gemacht und die Mutter enttäuscht zu haben. Danken wird schnell zur Floskel, genau deswegen war es ein geradezu genialer Coup für die Süßwarenfirma Storck, die „Merci“-Schokolade auf den Markt zu bringen.

Der schnelle, unpersönliche Dank, weil es sich eben so gehört, ist eine menschheitsgeschichtliche Konstante. Aber warum fühlt sich ein einfaches, ehrliches Danke dann trotzdem so gut an? Eins, das von Herzen kommt? „Danke dir“, sagt die Kollegin, der wir eine lästige Aufgabe abgenommen haben, als wir schon dachten, sie habe es gar nicht wahrgenommen. „Ach, da nicht für“, sagt der sichtlich gerührte Nachbar, der für das Zurückstellen aller Mülltonnen des Hofes ein ernst gemeintes Danke erntet von einer Frau, die ihn bislang nur kurz im Treppenhaus gegrüßt hat. Wird uns gedankt, fühlen wir uns wahrgenommen.

Wir brauchen einander. Wir sind nicht perfekt.

Wie wäre es, das Erntedankfest nicht allein zur Würdigung des guten Essens, sondern auch für ein weiter gefasstes „Danke“ an die Menschen in unserem Leben zu nutzen? Und sei es nur mit einer kurzen Nachricht über WhatsApp oder den Facebook-Messenger, um an etwas zu erinnern, was im vergangenen Jahr ungesagt geblieben ist – weil mal wieder der Alltag dazwischenkam. „Danke, dass du mir zugehört hast, ohne mich zu bewerten, als ich einen schwierigen Gedanken ausgesprochen habe.“ „Danke für deine Freundschaft.“ „Danke, dass du mich so nimmst, wie ich bin.“ „Danke, dass du mich nach dem Streit damals wieder angerufen hast und wir sprechen konnten.“

Wir brauchen einander. Wir sind nicht perfekt. Auch solche Erkenntnisse stecken im einfachen Danke. Es ist ein großes Wort. Ein einfaches Danke ist eben alles andere als einfach. Weil immer auch eine gewisse Unterwürfigkeit darin steckt, was wir schon beim Singen von „Danke für diesen guten Morgen“ gespürt haben. Das ist schwierig auszuhalten. Wir haben nicht alles selbst in der Hand. Sind so viel weniger unseres Glückes Schmied, als der Lebenshilfe-Ratgeber behauptet. So ein Gedanke passt nicht in die Leistungsgesellschaft.

Das Leben ist ein Geschenk und keine Belohnung.

Gott für die Gesundheit danken? Dafür, dass wir netterweise einen weiteren Tag erleben dürfen? Wirklich? Wir haben schließlich ganz bewusst und aus eigenem Antrieb auf unsere Ernährung geachtet, auf Alkohol und weißen Zucker verzichtet, die Mitgliedschaft im Fitnessstudio jedes Jahr verlängert, den Marathon geschafft, das Rauchen aufgegeben und morgens warmes Ingwerwasser statt starken Kaffee getrunken. Gutes, achtsames Leben wird mit Gesundheit belohnt, schlechte Konsum-Entscheidungen dagegen bestraft. Ist doch ganz einfach. „Er hat aber auch immer gut gelebt“, ist gern mal auf Trauerfeiern für zu früh Verstorbene zu hören. Das ist natürlich vor allem eine Selbstvergewisserung: Uns passiert so etwas Blödes wie der Tod nicht. Denn wir leben vernünftig. Wir wissen tief in uns drin, dass das nicht stimmt. Dass die Gemeinheiten des Lebens auch jene ereilen, die auf sich achtgeben. Und jene verschonen, die kein Fitnessstudio je von innen gesehen haben und ganz bewusst ihren Toast mit Nutella und ihr Feierabendbier genießen.

Auch die Corona-Krise hat wieder ins Bewusstsein gebracht: Gesundheit, ja, das Leben an sich, ist eben doch ein Geschenk – und keine Belohnung fürs Alles-richtig-Machen. Man kann sich, so gut es geht, vor dem Covid-Virus schützen. Aber eine letzte Sicherheit gibt es nicht.

Also doch: Danke! Danke, dass wir jetzt in diesem Moment hier sein dürfen, danke für jeden Tag, an dem wir nicht krank sind, an dem es der Familie und den Freund*innen gut geht. Und danke dafür, dass wir es in vielen Fällen schaffen, auch Krisen zu überstehen.

Und der große Kürbis da vorne am Altar, der ist auch prächtig gelungen. Danke!


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Anne Lemhöfer 147 Artikel

Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de

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