Zusammen singen? – Und es geht doch!
Vermissen Sie es auch, das Singen? Ob im Gottesdienst die Kirchenlieder, die Liturgie, oder eben: den Chor. Seit Jahren singe ich im Interreligiösen Chor Frankfurt. Ohne unsere klingenden Versuche, die Quellen des Glaubens von Muslimen, Jüdinnen, Christen zu erforschen, wird der Resonanzboden im Alltag schnell brüchig. Viel Zwischenraum war für die Chormitglieder schon immer verbindend, aber jetzt ist es dann doch etwas schwierig mit dem Brückenbau zwischen den Religionen – angesichts des Infektionsrisikos mit dem Coronavirus, welches das Singen verbietet.
Das letzte Konzert liegt über ein halbes Jahr zurück, eine längere Pause war eingeplant, Anfang Juni sollte es aber wieder losgehen – diesmal mit Proben zu Psalm 113. Angesichts der Meldungen über die Rolle von Aerosolen bei der Übertragung des Coronavirus und Superspreadern in Gottesdiensten war mit der längerfristigen Stilllegung des geliebten und nunmehr also lebensgefährlichen Hobbys zu rechnen. Die Information seitens der Chorleitung, dass gemeinsames Singen per Videocall geplant sei, erzeugte bei mir zunächst eher Skepsis: als Matrix für das Singen schien mir das Internet kaum geeignet. Klangkörper digital? Unmöglich!
Doch in die gewohnten Proberäume passen wir aufgrund der gebotenen Abstandsregeln allenfalls als Quartett, nicht als Chor, und die Konferenzschaltung löst das Raumproblem: Ein Patchwork aus Wohn- und Arbeitszimmern erscheint zum verabredeten Zeitpunkt auf dem Bildschirm. Es ist schön, die anderen wiederzusehen, jede*n für sich in der eigenen, vertrauten Umgebung. Man winkt etwas irritiert und ziellos in die Runde, schreibt kleine persönliche Grüße in den Chat und nach einem Willkommen durch die Chorleiter*innen Bettina Strübel und Daniel Kempin geht es los mit ein paar Lockerungsübungen und dem Einsingen.
Alle sind stumm geschaltet mit Ausnahme der Chorleitung, und so höre ich in meiner Corona-Einsamkeit zunächst sie und mich selbst singen, während ich alle anderen, denen es genauso geht, nur sehe. Nun gut, gemeinsam Üben ist eben nicht zusammen Singen – und doch ist dies weit mehr als ein verzweifelter Versuch, mit Trennung und Distanz zurechtzukommen: Der Zusammenklang bleibt aus, aber der Chor schweigt nicht.
Ich finde es zugleich traurig und tröstlich, dieses stille Parallel-Duett der vielen Einzelnen in ihren Bildschirmsegmenten. Und das ist ja auch neu: Im Chor ist es eher kein reguläres Phänomen, die eigene Stimme deutlich zu vernehmen, doch nun höre ich mich lateinische und hebräische Verse aus Psalm 113 singen, zusammen mit der – abwechselnd – christlichen Kantorin Bettina Strübel und dem jüdischen Kantor Daniel Kempin, die außer sich selbst niemanden hören und trotzdem unermüdlich weitersingen. Dieser multiple Einzelunterricht ohne Korrekturmöglichkeit – sicher auch für diese beiden eine ganz neue Art des Probens. Liebevoll sparen sie nicht mit Ermunterung und Bestätigung: „Sehr schön!“ oder „Noch einmal!“. Optimismus und Begeisterung sind ein wesentlicher Bestandteil guten Kontakts. Und es berührt: Die Stimme aus der Ferne unterstützt, um den Gesang zusammen mit mir in meiner halb digitalen, halb analogen Klause erklingen zu lassen. Eingebettet in Stille, gesungen im Vertrauen auf die Gemeinsamkeit mit den unhörbaren Anderen, vielleicht ein Ausdruck dessen, dass tief empfundene Isolation nicht unbedingt gleichbedeutend mit Alleinsein ist.
So also geht es jetzt miteinander im Chor. Wir sind auf eine neue Weise beschäftigt mit den Fragen von An- und Abwesenheit, auf eine neue Weise getrennt und verbunden und womöglich überrascht von der Tragfähigkeit des mehr denn je in seiner Unüberbrückbarkeit wahrnehmbaren Zwischenraums. Und auch das bleibt: Wir sprechen über Psalmenverse und Suren, probieren neue Gottesnamen und tauschen uns aus über das, was interreligiös verbindet. Und am Schluss trauten wir uns dann doch, alle zusammen – un-mutet, un-locked – zu singen, Übertragungsverzögerung hin oder her. Klangteppiche und Zufallsprinzip mochten wir schon immer. Es war eine Freude – trotz allem, was wir weiterhin schmerzlich vermissen werden.