Kunst & Kultur

Interreligiöser Chor Frankfurt: Singen. Essen. Beten.

Der Interreligiöse Chor Frankfurt probt derzeit Psalm 130. Es ist das vierte Projekt, für das Psalmvertonungen aus jüdischer und christlicher Tradition auf dem Programm stehen – das Konzert findet am 11. November im Dominikanerkloster statt. Mit dabei ist auch unsere Autorin Silke Kirch.

„Singen ist außen und innen zugleich“: Unsere Autorin Silke Kirch bei der Tehillim-Chorprobe. Foto: Rolf Oeser
„Singen ist außen und innen zugleich“: Unsere Autorin Silke Kirch bei der Tehillim-Chorprobe. Foto: Rolf Oeser

Wenn ich die Stufen in „Römer9“ zur Chorprobe hinaufsteige, möchte ich zuweilen den Hasen auf den Arm nehmen, der auf dem Treppenabsatz sehr lebensecht und kunstvoll an die Wand gezeichnet ist. Er wirkt, als sei er auf der Schwelle zwischen Tod und Leben; ihm haftet etwas Uneindeutiges an. Doch gerade das ist es, was mich weitergehen lässt. Denn ich möchte wissen, was es auf sich hat mit den Kompositionen zu Psalm 130, in dem es um die Todesnähe geht, den Schrei, die Hinwendung zu etwas Unbegreiflichem, um das Insistieren auf Gehör, das Flehen, das Hoffen auf Erlösung. Können Bach, Lewandowski und Gluck Not sublimieren? Werde ich mich unter sechzig Chormitgliedern überhaupt selbst hören können, oder gehe ich da verloren?

Wo Töne überall Platz haben können

Singen jedenfalls ist ein Schwellenerlebnis. Denn Singen ist außen und innen zugleich, und wo die Töne überall Platz haben können, erfahren wir von Kantorin und Chorleiterin Bettina Strübel beim Einsingen: Die Klänge meiner Stimme wohnen zwischen Lunge, Kehle und Ohr, wandern zwischen Bauch- und Nasenhöhlen, können unter der Zunge versteckt und am Gaumen entlang gerollt werden. Sie steigen empor und kommen zu uns zurück. Sie laben von innen wie von außen. Das ist wie das reichgedeckte Buffet, mit dem sich die Chormitglieder an langen Probentagen selbst beglücken: Singen ist wie gemeinsames Essen, es stiftet Verbindung. Zusammen mit den anderen entsteht etwas Unerwartetes, Umfassendes, das flugs ein Zelt aufschlägt für alles Belastende und schwer Begreifliche.

Der hebräische Ursprungstext gibt dem Uneindeutigen Raum. Wenn wir jedoch die Laute intonieren, die Chorleiter Daniel Kempin, jüdischer Vorbeter in Frankfurt, singt, schäme ich mich über mein Radebrechen, das den Wortsinn wie den Wohllaut hörbar abstürzen lässt und mich in Worthülsen stammeln lässt, die ich allenfalls sehr unvollständig begreife. Genau in diesem Absturz von Zusammenhängen, in diesem allgegenwärtigen Scheitern von Bezugnahme und Beziehungen, in dieser Unerfüllbarkeit von Sinn – so scheint es mir – ist er angesiedelt, der Schmerz, von dem Psalm 130 kündet.In der Musik greift er Raum: In den alten Chorälen und Kantaten wird das Leiden getragen, geflüstert und herausgeschrien, ausgebreitet, vielfältig umspielt. Es insistiert. Es flammt auf in Intervallen, in phrygischen und frejgischen Tonleitern, im Mit- und Gegeneinander der Stimmen und in dem Schweigen dazwischen. Und genau dort – so wird mir deutlich – möchte ich hin mit meinem Hasen: In diesen nahrhaften, andächtigen Zwischenraum, der beim vielstimmigen Singen so spürbar wird. Singen ist wie beten.

Nicht immer zu erklären, aber zu begreifen

Der interreligiöse Chor, ein bundesweit einmaliges Projekt, sucht den Dialog der Religionen zum Klingen zu bringen. Die Stufenpsalmen, die seit 2012 im Chor erarbeitet und aufgeführt werden, gehören zu den Wurzeln jüdisch-christlicher Tradition. Die verschiedenen Vertonungen der Psalmen entfalten einen reichen Bedeutungshorizont und loten die Intervalle zwischen den Religionen aus. Die sind nicht immer zu erklären, aber unmittelbar zu begreifen, wenn man ihnen lauscht oder sie in den Raum entlässt.

Wer selber mitsingen möchte: Infos unter www.bettina-struebel.de. Der Interreligiöse Chor Frankfurt (IRCF) hat auch eine Facebook-Seite.


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Silke Kirch 55 Artikel

Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.