Jede Menge Stoff statt nackter Haut
Der Spruch stand nicht nur in meinem Poesiealbum. Auch meine Freundinnen lernten ihn: „Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein. Und nicht wie die stolze Rose, die stets bewundert will sein.“ Verziert mit selbst gemalten Blümchen zeugten diese Zeilen von einer jahrhundertelangen Tradition, die Frauen einen Platz hinter den Kulissen zuweist. Bescheiden sein, keine Ansprüche stellen, sich bloß nicht in den Vordergrund drängeln.
Ich hatte den gruseligen Vers ganz vergessen, bis ich zur Eröffnung der Ausstellung „Zeitgenössische muslimische Mode“ im Museum Angewandte Kunst ging. Dort wird noch bis zum 1. September Mode muslimischer Designerinnen gezeigt, ergänzt durch diverse Kunstwerke, die sich mit dem Thema auseinandersetzen.
Und da waren dann plötzlich diese Vokabeln wieder: Bescheiden, sittsam, dezent – das alles sind mögliche Übersetzungen des Begriffs „modest“, unter dem der Stil von wallender, körperbedeckender Frauenbekleidung läuft.
Musliminnen sind dabei eine große und finanzstarke Gruppe von Kundinnen, der Trend wird aber auch von jüdisch-orthodoxen Frauen vorangetrieben, und er kann genauso auf einen großen Fundus an christlichen Dresscodes Bezug nehmen. Denn traditionell trägt auch die gute Christin ihre Röcke lang und die Schultern bedeckt und verzichtet beim Stoff auf grelle Farben.
Dass Frauen sich „bescheiden, sittsam, dezent“ kleiden (sollen), haben alle drei monotheistischen Religionen gemeinsam. Die Hinweise, die sich dazu in Bibel und Koran finden, sind allerdings spärlich. Ein Hinweis im Hohelied, dass körperliche Schönheit „verwirren“ kann (Hohelied 6,4), die neutestamentliche Aufforderung an Frauen, sich „in sittsamem Gewande mit Anstand und Besonnenheit“ zu schmücken“ (1. Tim 2,9) und natürlich die Koran-Sure, wonach Frauen „ihre Tücher über ihre Busen ziehen sollen“ (Sure 34, Vers 31). Aber was heißt das genau?
Konkrete Kleidungsvorschriften sind erst durch die Tradition entstanden. Je nach Zeitalter, Region, Gemeinde oder persönlicher Glaubenspraxis fallen sie völlig unterschiedlich aus. Genau deshalb sind sie soziologisch gesehen interessant. Weil sie sich dauernd wandelt, spiegelt Kleidung nicht religiöse Dogmatik wider, sondern kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen.
So ist der Trend zu „sittsamer“ Mode, auch wenn das paradox klingt, vor allem eine Folge der Frauenemanzipation. Denn nicht die unterdrückten, sondern die emanzipierten Frauen treiben ihn voran. Die Enkelinnen der früheren „Gastarbeiter“ aus der Türkei etwa, die nicht mehr Verkäuferin oder Reinigungskraft sind, sondern Anwältin, Lehrerin, Ärztin. In den USA verstehen sich immer mehr Frauen aus konservativen christlichen Gemeinschaften als emanzipiert und traditionell zugleich. In Israel gehen über 70 Prozent der ultraorthodoxen Frauen einer Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses nach.
Und alle diese Frauen brauchen etwas zum Anziehen. „Nirgendwo in der Tora steht geschrieben, dass eine Frau nicht schön sein darf“, sagt etwa Miri Beilin, die in Jerusalem eine Designschule für ultraorthodoxe Frauen betreibt.
Auch andere haben das ökonomische Potenzial erkannt. Die algerische Investorin Ghizlan Guenez gründete 2017 die Internetplattform „The Modist“, wo es körperbedeckende Luxuskleidung unterschiedlicher Labels zu kaufen gibt. Als Kundinnen sind nicht nur Musliminnen angesprochen, sondern alle – sofern sie sich die happigen Preise leisten können.
Modest Fashion ist ein Trend, der nicht Grenzen zwischen den Religionen aufmacht, sondern sie im Gegenteil verwischt. Und das bis ins säkulare Milieu hinein. Man muss ja nicht religiös sein, um wallende Kleider schön und bequem zu finden. Auch die New Yorker Designerin Batsheva Hay richtet sich mit ihrem 2016 gegründeten Modelabel explizit an alle Frauen, die lange, bequeme Kleidung tragen möchten – aus welchen Gründen auch immer. Von Modemesse zu Modemesse feiert sie größere Erfolge. Inzwischen tragen Prominente wie die Schauspielerin Natalie Portman oder die Autorin Lena Dunham Mode von „Batsheva“.
Batsheva Hay war ursprünglich nicht religiös. Sie stammt aus einer säkularen jüdischen Familie, heiratete dann aber einen Mann, der zum ultraorthodoxen Judentum konvertiert war. Seine religiöse Ernsthaftigkeit faszinierte sie, doch ihr Kleiderschrank gab nichts her, womit sie ihren Mann zu Veranstaltungen der orthodoxen Gemeinde begleiten konnte. Die gängige Mode passte nicht mit deren Vorschriften zusammen, wonach der Körper bis über Knie, Ellenbogen und Schlüsselbein bedeckt sein muss. Also schneiderte sich Hay ihre Garderobe kurzerhand selbst. Dabei ließ sie sich unter anderem von der amerikanischen Geschichte inspirieren: Die Rüschen, Blümchenmuster und Raffungen ihrer Outfits ähneln stark dem, was Frauen in alten Westernfilmen tragen. Solche sogenannten „Prairie Dresses“ bilden inzwischen eine eigene Stilrichtung, gewissermaßen eine christlich-amerikanische Variante sittsamer Mode.
Diese Aneignung stößt allerdings auch auf Vorbehalte. Die feministische Internetplattform Jezebel kritisierte, dass Kleidung im Stil von „Meine kleine Farm“ sowohl patriarchale als auch rassistische Traditionen weißer amerikanischer Überheblichkeit aufleben lasse. Bei der New York Fashion Week im Februar traten Hays Models dann prompt mit dezidiert feministischen Slogans auf.
Ist der Griff zum knöchellangen Kleid, zur hochgeschlossenen Bluse oder zum Tuch auf dem Kopf nun also eine Kapitulation vor patriarchalen Geschlechterbildern oder im Gegenteil Ausdruck emanzipierter Selbstbehauptung?
Pauschal beantworten lässt sich das nicht. Im Einzelfall kann es sowohl das eine wie das andere sein. Wo die Grenze zwischen Konformismus und Selbstbestimmung verläuft, muss jede Frau selbst entscheiden. Bei Batsheva Hay zum Beispiel war sie erreicht, als der Rabbi ihres Mannes wollte, dass sie eine Perücke trägt – auf gar keinen Fall, entschied sie!
Der emanzipative Gestus ist beim Hype um Modest Fashion jedenfalls genauso sichtbar wie der Gestus der Bescheidenheit und Hingabe. So oder so sind es überwiegend junge Frauen, die die Entwicklung vorantreiben: Vierzig Prozent der Designerinnen, deren Arbeiten jetzt im Museum Angewandte Kunst gezeigt werden, sind zwischen 25 und 35 Jahre alt.
Konservativen Rabbis, Predigern und Imamen ist das Ganze nicht immer geheuer. Und man kann schließlich auch fragen, wie „bescheiden“ es denn eigentlich ist, wenn man ständig Fotos von sich selbst in verschiedenen Outfits auf Instagram postet, selbst wenn man „bedeckt“ bleibt.
Der Erfolg von Modest Fashion hängt jedenfalls auch mit dem Internet zusammen. Hunderte Influencerinnen verbreiten den Trend auf ihren Social-Media-Kanälen. Wer zum Beispiel das Instagram-Profil von Adi Heyman aufruft, findet eine typische Fashion-Seite mit einer Protagonistin, die ungewöhnliche Garderobe auf beängstigend hohen Absätzen präsentiert. Dass Arme, Beine und Dekolleté immer bedeckt sind, fällt kaum auf, und schon gar nicht, dass es sich bei den langen blonden Haaren um eine Perücke handelt. Adi Heyman ist orthodoxe Jüdin, aber sie stellt das nicht heraus, genauso wenig wie die kuwaitisch-amerikanische Youtuberin Ascia ihr Muslima-Sein.
„Sittsame Mode“, so die Botschaft dieser „Fashionistas“, ist nichts Außergewöhnliches, nichts Spezielles, sondern das neue Normal. Eine Erfindung religiöser Frauen, aber ein Angebot für alle, denen es gefällt. „Ich habe zusammen mit anderen Bloggerinnen einen neuen Street-Style geschaffen“, sagt Adi Heymann.
Und sie hat recht. Inzwischen haben nicht nur große Modehäuser wie Céline oder Dior diese Mode aufgegriffen, sie hat auch Mainstream-Marken wie H&M oder Mango erreicht. In deren Läden werden Frauen, die möglichst viel Haut bedecken wollen, genauso fündig wie solche, die viel nackte Haut zeigen wollen. Vielleicht ist es ja doch möglich, dass Frauen das Ideal von „Sittsamkeit“ selbstbestimmt neu definieren.
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