„Ich wollte Erinnerungskultur spannend machen“
Der EFO-Podcast - hier können Sie das Gespräch hören.
Frau Faust-Kallenberg – wie kommt eine Pfarrerin dazu, ein Buch zu schreiben?
Ich wollte das Thema Erinnerungskultur aufgreifen und spannend machen. Wie können wir das, was wir in den 1930er- und 1940er-Jahren in der deutschen Geschichte erlebt haben, am Leben halten? Die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sind inzwischen fast alle gestorben. Wir erleben, dass diese besondere Zeit und Erinnerung wegrutscht und zu einem Stück Geschichte wie jede andere Geschichte auch wird. Deshalb habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, sie auf andere Weise nahezubringen.
In Ihrer Geschichte ist genau das der Fall: Die Zeitzeugin ist tot, Oma Luise nämlich, eine Frau aus einer Winzerfamilie in Rheinhessen. Nach ihrem Tod entdeckt ihre Enkelin unterm Bett einen wertvollen Hochzeitskelch, und versucht dann, etwas über dessen Geschichte herauszufinden. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Plot?
Ich bin ein großer Fan von Bares für Rares, wie wahrscheinlich 50 Prozent der deutschen Bevölkerung. Und jedes Mal, wenn ich die Gegenstände sehe, die da auf dem Tisch sind, denke ich: Jeder dieser Gegenstände hat eine Geschichte. Mir ist aufgefallen, dass es oft Gegenstände sind, von denen die Menschen gar nicht wissen, welche Geschichte sie haben. Manchmal sind es Gegenstände, die passen eigentlich gar nicht zu den Menschen, die da kommen. Manche sind sehr wertvoll, und die Menschen sagen: Das hab ich im Haus meiner verstorbenen Oma oder meines verstorbenen Opas gefunden, aber diese Jugendstil-Glasvase habe ich noch nie gesehen, oder diesen Brillantring, den hat meine Oma nie getragen. Und dann denke ich: Frage dich doch mal, warum deine Oma diesen Ring oder diese Vase nie gezeigt hat. Welchen Grund hatte sie, einen Gegenstand, der doch eigentlich zum Zeigen da war, nicht zu präsentieren? Vielleicht hat sie sich geschämt. Das hat mich angeregt, eine Geschichte zu schreiben, die damit beginnt, dass jemand etwas Wertvolles versteckt, weil er damit Geschichte verstecken will. Und diese Geschichte wird dann aufgedeckt. Eine Geschichte, die sehr verzahnt ist und sehr kompliziert, wie auch unsere Gegenwart sehr kompliziert ist.
Der Hochzeitskelch ist ein jüdischer Hochzeitskelch, so viel kann man verraten, und anhand dieses Kelches entfaltet sich die Geschichte dieses rheinhessischen Winzerdorfes in den 30er- und 40er-Jahren. Auch Oma Luise ist auf vielfältige Weise da hinein verstrickt. Ich fand sehr eindrücklich, dass herauskommt, wie wenig man doch eigentlich von Menschen weiß, die nur eine oder zwei Generationen älter sind. So geht es der Protagonistin Sabine, die in ihren Dreißigern ist und in Frankfurt lebt, und herausfindet, dass sie weder über ihre Großmutter noch über ihre Mutter viel weiß.
Richtig. Wir erleben unsere Großeltern immer nur als Großeltern. Dass sie mal genauso jung waren, dass sie auch mal einen Geliebten hatten, dass vielleicht der Großvater schwul war, das ist unvorstellbar. Wir stellen uns die 1930er und 1940er Jahre als eine rückwärtsgewandte Zeit vor, in der es das alles nicht gab, was es heute gibt. Aber so ist es ja nicht. Menschen waren damals auch nicht anders als heute. Nur die Zeit war eine andere, und bestimmte Dinge durften sie nicht zeigen. Das Buch macht deutlich, wie in dieser Zeit, in der bestimmte Dinge so nicht sein durften, Menschen damit umgehen mussten. Ich habe mich sehr bemüht, es sauber zu recherchieren. Die Geschichte hätte so passieren können, ist aber nicht passiert.
Praktischerweise kommt auch ein Historiker vor, Professor Ludwig Fromme, der zufällig ein Nachbar von Sabine ist und ihr helfen kann, mehr über die Geschichte des Hochzeitskelches herauszufinden. Es steckt sehr viel Sachkenntnis in dem Buch. Ich glaube, so einen Hochzeitskelch gibt es auch hier im Museum Judengasse zu sehen, nicht wahr?
Ja. Das Bild auf dem Buchumschlag hat uns das Jüdische Museum zur Verfügung gestellt. Jüdische Familien hatten traditionell solche Kiddusch-Kelche, die vom Ältesten an den ältesten Sohn weitergegeben wurden, oft bei der Hochzeit. In dieser Geschichte ist es nicht nur ein Kelch, sondern in der Kiste ist auch ein Hochzeitsring, der nur zur Hochzeit getragen wird, und es gehört noch eine Besamim-Dose dazu, die im Sabbatritus benutzt wird. Das Tragische ist, dass es das heute nur noch ganz selten gibt, weil mit dem Genozid einer Religion auch ihre Kultur verschwindet. Natürlich kann man solche Kelche nachgemacht und neu überall bekommen. Aber die vielen alten Kelche aus dem Barock, aus der Renaissance bis hin zum Jugendstil, die gibt es kaum noch, weil die Nazis den Menschen diese Kelche weggenommen haben. Sie waren ja aus Gold oder aus Silber und sind eingeschmolzen worden. Oder eben als Raubkunst verschwunden und dann irgendwo versteckt worden, zum Beispiel bei Oma Luise unter dem Bett.
Sabine, die Hauptfigur, findet nach und nach heraus, was in diesem Dorf während der Naziherrschaft passiert ist. Dabei spielen sehr viele Figuren eine Rolle, und es ist interessant, wie sie immer durch ihre Nachfahren gespiegelt werden. Mich hat sehr beeindruckt, wie es Ihnen gelungen ist, diese Figuren ambivalent zu belassen. Man könnte ja gerade bei so einer Geschichte versucht sein, klar zwischen den Guten und den Bösen zu unterscheiden. Und es gibt ja auch Gute und Böse. Aber trotzdem bleiben die Figuren vielschichtig, vor allem natürlich Oma Luise selbst, die eigentlich eine große Sympathieträgerin ist, aber trotzdem einige Leichen im Keller hat. Ist das Ihre Überzeugung, dass man auch eine Zeit wie den Nationalsozialismus differenziert sehen muss und nicht nur zwischen den Guten und den Bösen unterscheiden kann? Sondern auch die Fallstricke sehen muss, in die Leute geraten können?
Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, das zu verstehen. Mein Mann, der Schwede ist, sagte mal zu mir: „Du sprichst über die Nazis, als wären die irgendwann mal zu euch gekommen und dann wieder gegangen.“ Tatsächlich waren die Nazis aber nicht irgendwas Fremdes gewesen, sondern es waren wir Deutschen selbst. Man kann sich eigentlich nicht distanzieren. Der Nationalsozialismus war ein Gebilde, in dem jeder eine Teilschuld hatte, und dem man sich nicht so leicht entziehen konnte. Natürlich gab es welche, die überzeugte Nationalsozialisten waren, aber es gab auch andere, die Gründe hatten, dabei zu sein. Mein Buch ist auch ein Versuch, zu zeigen, wie schnell so etwas gehen kann.
Das ist ja derzeit wieder aktuell, weil man eine Ahnung bekommt, wie niedrig die Hürden im Zweifelsfall sind, wie schnell etwa „Brandmauern“ zusammenfallen. Es wird aber noch ein anderer Punkt deutlich, nämlich wie schwer es ist, die eigenen Interessen herauszuhalten. Zum Beispiel ist da Andreas, der Bruder von Sabine, der Geldsorgen hat und deshalb diesen Hochzeitskelch möglichst gewinnbringend verkaufen will. Auch bei Oma Luise gibt es ein großes eigenes und auch nachvollziehbares Interesse, das sie letzten Endes zur Verbrecherin werden lässt.
Niemand ist von Grund auf böse. Es gibt schon eine Figur in dem Roman, die wirklich den bösen Hut aufhat, aber eigentlich ist es nicht so. Niemand ist wirklich von Grund auf böse, sondern jeder hat seine Gründe.
Und niemand ist von Grund auf gut. Wir können alle verführt werden von bestimmten Konstellationen und Interessen.
Genau. Ich war früher Pfarrerin in zwei Dörfern in Rheinhessen und habe noch viele Menschen erlebt, die aus dieser Generation kamen, darunter auch sehr starke Frauen, die mitten im Krieg zwei Männer geheiratet haben oder im Krieg einen Geliebten hatten, und nach dem Krieg kam der Mann zurück, und dann hatten sie ein Kind von dem Geliebten. All solche Sachen. Diese Dinge haben sie oft erst gegen Ende ihres Lebens erzählt, und ich war Zuhörerin. Da bekam ich mal mit, wie stark diese Frauen waren und was sie alles erlebt hatten, oder auch, worunter die gelitten haben und wie die die Geschicke ihrer Familie zum Teil manipuliert haben, teilweise auch bewundernswert manipuliert. Da steckt unheimlich viel drin, was unsere Generation, die alles transparent macht, gar nicht erahnt. Wer mir immer besonders leidgetan hat, das war diese Zwischengeneration, also die Anni aus meiner Geschichte.
Anni ist die Tochter von Luise und die Mutter von Sabine, also die Generation der Kriegskinder. Ja, sie ist tatsächlich die Gebeutelte.
Sie ist intelligent genug, darf aber keine Ausbildung machen. Und warum? Weil es immer um den Betrieb geht. Es geht immer darum, diesen Betrieb zu retten. So geht es auch Andreas. Er ist ja nicht böse, wenn er diesen Kelch verkaufen will, sondern er wurde so erzogen: Der Betrieb muss um jeden Preis gerettet werden. So funktionieren diese Weingüter.
Das Buch ist nun schon ein paar Wochen da, wie waren bisher die Reaktionen?
Wer das Buch liest, findet es sehr spannend. Aber man muss es an den Mann und an die Frau bringen, und das ist gar nicht so einfach. Es gibt sehr viele Bücher auf dem Markt, und es ist nicht in einem großen Verlag erschienen, sondern einem kleinen, der Edition-tz. Das ist ein Darmstädter Verlag, der Bücher verlegt, die entweder einen regionalen Touch haben oder sich mit der jüngeren Geschichte beschäftigen.
Apropos regionaler Touch: Davon hat das Buch ja zwei, Rheinhessen, worüber wir schon gesprochen haben, aber auch Frankfurt.
Richtig. Sabine, die Protagonistin, wohnt im Westend, in einem typischen Multikulti-Haus. Die Eigentümerin heißt Hanna und ist eine ehemalige Primaballerina. Hanna liebt koscheren Champagner und hat ganz viele Fotos von sich selbst, damals, als sie noch im russischen Staatsballett war und die Männer ihr zu Füßen lagen. Irgendwann hat sie aus Liebe die Bretter der Welt getauscht gegen ein Leben mit einem orthodoxen jüdischen Mann und lebt nun im Westend. Auf der nächsten Etage lebt eine türkische Familie, der Mann ist Arzt und die Frau ist Lehrerin, und sie haben eine Tochter, Naime, die ist etwa zwölf und hat es faustdick hinter den Ohren. Und ganz oben wohnen eben Sabine, die Protagonistin, und nebendran der Professor Ludwig Fromme. Er ist nicht nur Professor, sondern auch Sohn einer reichen Industriellenfamilie aus Kronberg. Das gab es ja, dass große Firmen den Nationalsozialismus unterstützt haben und dann nach dem Krieg einfach weitermachen konnten, weil die Besatzer Leute brauchten, die Deutschland wieder aufgebaut haben. Die Fromme-Werke in meinem Buch haben einen solchen Hintergrund. Aber Ludwig will damit nichts zu tun haben und fordert von seinem Vater eine Aufarbeitung der Firmengeschichte.
Auch da haben Sie die Akteure aber wieder ambivalent gezeichnet. Selbst der Vater von Ludwig Fromme ist nicht durch und durch nur böse, auch er hat Motivationen, die nachvollziehbar werden.
Richtig. Und es gibt noch ein Wesen, das wir nicht vergessen dürfen, das eine wichtige Rolle spielt.
Der Hund!
Ja genau, es gibt einen Hund, obwohl sowohl im Judentum als auch im Islam der Hund eine durchaus umstrittene Rolle spielt. Dieser Hund wird schließlich zum Kämpfer, zum Kämpfer gegen den Antisemitismus.
Susanna Faust-Kallenberg, Der Hochzeitskelch. edition-tz, 681 Seiten, Darmstadt 2023, 19,95 Euro.
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