„Das neue Evangelium“ wird gestreamt – und ist aktuell wie eh und je
Die Kulisse ist grandios, kein Wunder, dass Filmcrews aus aller Welt gerne in Matera drehen. Die berühmtesten Jesus- und Sandalenfilme sind hier entstanden, aber auch James Bond war schon da. Doch die Filmindustrie ist nicht der einzige Wirtschaftszweig in der Basilikata. Auch die Landwirtschaft ist ein Faktor, Orangen und Tomaten werden hier angebaut. Tausende Erntehelfer, meist Flüchtlinge aus Afrika, schuften rund um Matera für Stundenlöhnte von weniger als fünf Euro in der sengenden Hitze. Sie leben in Ghettos unter unmenschlichen Bedingungen, teilweise ohne Wasser, ohne Strom und ohne medizinische Versorgung. Es ist eine moderne Form der Sklaverei, von der in ganz Italien schätzungsweise eine halbe Million Menschen betroffen sind.
In seiner Neuverfilmung des Evangeliums bringt der Schweizer Regisseur Milo Rau diese beiden Welten zusammen. Seine Darsteller:innen findet er teils unter den Einwohner:innen von Matera, die daran schon gewöhnt sind. Und er greift auf die älteren Produktionen zurück: Maria, die Mutter Jesu, spielt Maia Morgenstern, die diese Rolle schon bei Mel Gibson hatte, und Johannes der Täufer ist Enrique Irazoqui, der (kurz nach den Dreharbeiten verstorbene) Jesus-Darsteller Pasolinis.
Jesus selbst und die Jünger (und eine Jüngerin) sind hingegen ganz überwiegend Flüchtlinge. Der Hauptdarsteller Yvan Sagnet stammt aus Kamerun und arbeitete selbst auf einer Tomatenplantage in Apulien, bis er 2011 den bisher größten Streik in der italienischen Landwirtschaft organisierte. Für das Filmprojekt zieht er 2019 durch die Lager rund um Matera, wo er seine Jünger und Jüngerinnen findet. Aber auch Kleinbäuer:innen aus der Region schließen sich an, die von großen Agrarunternehmen in den Bankrott getrieben werden und Seite an Seite mit den Flüchtlingen auf die Missstände aufmerksam machen.
Auf diese Weise schafft der Film es großartig, das Evangelium zu aktualisieren. Das funktioniert auch deshalb, weil die Passionsgeschichte Jesu so bekannt ist. Schon im Vorspann des Films wird das deutlich: Hier zeigt die Kamera einige der Figuren in Großaufnahme, und man weiß auf den ersten Blick, wer das ist. Die Figuren der Passion sind narrative Bausteine einer christlichen Weltsicht, deren Sinn es ist, immer wieder neu mit Leben gefüllt zu werden. Wenn man diese Figuren dann abwechselnd im realen Leben und in der biblischen Inszenierung sieht, ergibt sich ein assoziatives Panorama, das ohne vereinfachende Moralisierungen den Finger in die Wunde legt.
Da zurzeit wegen der Corona-Pandemie keine Filmstarts im Kino möglich sind, wird „Das neue Evangelium“ ab dem 17. Dezember im Internet gestreamt. Tickets kann man unter https://dasneueevangelium.de kaufen, Kinos werden am Erlös beteiligt.
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