Buchtipp: Sprache finden für eine vielfältiger gewordene Welt
Deutschland wird vielfältiger – und zwar nicht mehr nur in der Realität (Migration ist schließlich seit den 1960er Jahren ein relevanter Faktor), sondern zunehmend auch auf der Ebene des Symbolischen, der Kultur, der Sprache. Dass an den relevanten Positionen in Kultureinrichtungen oder in Redaktionen die inzwischen sprichwörtlichen „alten weißen Männer“ das Sagen haben, wird von den „anderen“ nicht mehr widerspruchslos hingenommen.
Das führt allerdings auch zu Konflikten. Manche finden schon eine Zuschreibung wie „alte weiße Männer“ despektierlich oder sogar diskriminierend, ohne zu merken, dass es vollkommen normal ist, „junge Frauen mit Migrationshintergrund“ als solche zu benennen. Von „Menschen mit Behinderung“ liest man häufig, von „Menschen ohne Behinderung“ praktisch nie. Über die Anliegen von Homosexuellen wird lang und breit diskutiert, was eigentlich mit den Heterosexuellen los ist, scheint niemanden zu interessieren.
Die Journalistin und politische Aktivistin Kübra Gümüşay erklärt in ihrem Buch „Sprache und Sein“, warum es wichtig ist, ob Menschen zu den „Benannten“ oder den „Unbenannten“ gehören, ob sie einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden – oder eben nicht, weil das, was sie sind, für normal und selbstverständlich gehalten wird.
Und warum ist das ein Problem? Weil die „Benannten“ immer nur teilweise sie selbst sind, mit einem anderen Teil hingegen als Repräsentant*innen ihrer Gruppe betrachtet werden. Der deutsche Pilot, der ein ganzes Flugzeug an einem Berg zerschellen ließ und hunderte in den Tod riss, war psychisch krank. Der Mann, der zwei Menschen vor einen Zug stieß, war auch psychisch krank. Vor allem aber war er „Ausländer“.
Kübra Gümüşay selbst hat als erkennbare Muslimin reichlich Erfahrung mit dieser Logik gesammelt. „Wenn ich bei Rot über die Ampel gehe, gehen alle Musliminnen bei Rot über die Ampel.“ Lange saß sie auf Podien und in Talkshows und versuchte, Vorurteile über den Islam und muslimische Frauen zu widerlegen. Heute macht sie das nicht mehr. „Ich war eine intellektuelle Putzfrau“ beschreibt sie die Dynamik solcher Veranstaltungen. Und tatsächlich mag es durch Freundlichkeit und Geduld und Sachkenntnis gelingen, bei dem ein oder anderen Menschen das ein oder andere Vorurteil abzubauen. Unterm Strich sind solche Debatten aber mindestens ambivalent, weil sie nichts an dem grundsätzlichen Problem dieses Settings ändern: Dass „die“ anderen eben genau als das erneut inszeniert werden – als andere nämlich.
Stattdessen hat Gümüşay diesen Essay geschrieben, in dem sie ihre Erfahrungen systematisiert und zu einer Zeitdiagnose formt. Er ist sehr lesenswert und augenöffnend, besonders für die „Unbenannten“. Also für Menschen, die keine Erfahrung darin haben, wie es ist, als individuelle Person kaum wahrgenommen zu werden, weil man zu einer kritisch und skeptisch beäugten Minderheit gezählt wird.
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