Bloß nicht still: Weihnachtslieder finden sich in allen Genres
Ein Mann. Eine Frau. Eine Spelunke. New York. Sie kamen mit dem Schiff aus Irland, auf der Suche nach neuer Heimat und alten Gefühlen, Glück und Glamour, nach einer Stadt mit „Autos groß wie Bars“ und „Flüssen aus Gold“, in der jedoch „der Wind durch dich durchpfeift“. Der Mann und die Frau können dem Wind der fremden Stadt nicht standhalten. Sie trinken gegen die Kälte an, schaffen sich mit Drogen ein verzweifeltes kleines Paradies, „and the bells are ringing out for Christmas Day.“
Die britische Band The Pogues hat mit „Fairytale of New York“ 1987 eine Weihnachts-Hymne geschaffen, die, wie das Magazin der Süddeutschen Zeitung schrieb, das liebste Weihnachtslied der Generation X ist. Also der Leute, die in den 1970er und frühen 1980er Jahren geboren wurden, die in den 1990er und frühen Nullerjahren vom Studien- oder Ausbildungsort um den 23. Dezember herum zu ihren Herkunftsfamilien fuhren, die heute im Berufsleben stehen und vielleicht selbst Kinder haben.
„Driving home for Christmas“ heißt passenderweise ein Ohrwurm von Chris Rea. Die Fahrt nach Hause enthält tausend Erinnerungen, schöne und schreckliche, ergreifende und ernüchternde, versöhnliche und nostalgische. Weihnachten ist Ambivalenz pur. Oder, wie es schon im echten Klassiker heißt: „We-helt ging verlo-horen, Chri-hist ist gebo-horen.“
Das Fest der Liebe löst alle Grenzen auf, und deshalb finden sich gute Weihnachtslieder auch in allen Genres. Weihnachten ist uns nicht egal, völlig unabhängig davon, wie wir zur Institution Kirche stehen. Seelsorger berichten, dass Strafgefangene bei „Stille Nacht“ in der Gefängniskapelle oft weinen. Kitsch ist ist in dieser Zeit des Jahres ausdrücklich erlaubt.
Ohne mindestens einen (gewollten oder ungewollten) Orwurm à la „Last Christmas, I gave you my heart“ ist es kein richtiger Dezember. Das erste „Kling Glöckchen“ des Jahres aus der krächzenden Box am Kräuterbonbon-Stand auf dem Weihnachtsmarkt lässt uns lächeln. Oder aufstöhnen. Es „macht etwas mit uns“, wie Psychologinnen sagen würden.
Wenn der Kirchenchor zum Auftakt des Gottesdienstes an Heiligabend „Komme-het i-hir Hirten“ schmettert, beginnen besondere Stunden. Es würde dramaturgisch gut passen, wenn sich draußen auf den Asphalt jetzt der erste (und vielleicht einzige) zarte Neuschnee des Jahres legte. Und später auf dem Weg zur Bescherung unter den Schuhen knirschte.
An Weihnachten feiern wir die Geburt eines Babys und die Hoffnung, die ein neues Menschenleben immer beinhaltet. Weihnachten konfrontiert uns mit der eigenen Existenz, mit unserer Herkunft, unseren Beziehungen und unserer Biografie, die mit jedem Weihnachtsbaum ein Jahr länger geworden ist. Es gibt ein erstes Weihnachten im Leben, und ein letztes. Viele Sterbenskranke fragen sich, ob sie wohl noch mal Weihnachten feiern werden.
Warum brauchen wir Weihnachtslieder? Weil Musik, wie Weihnachten selbst, unser Innerstes berührt. Weil vom 24. bis 26. Dezember Ausnahmezustand in der Seele herrscht. Weihnachten ist ein Fixpunkt. Selbst dann, wenn wir es ablehnen. Wir sind berührbarer als sonst, aber auch verletzlicher. Manchmal vielleicht auch zynischer, sarkastischer, was die dunkle Seite erhöhter Empfindsamkeit sein kann. Da ist mehr Freude und mehr Hoffnung, aber auch mehr Streit und mehr Melancholie als sonst. Nach all den Umarmungen und „Hach, was haben wir es schön“-Versicherungen erscheint vielleicht wie aus dem Nichts eine tiefe Traurigkeit, wie der kalte New Yorker Wind aus dem Lied der Pogues. Es gibt Menschen, die hören 364 Tage lang keine Musik. Um sich dann von Bachs „Weihnachtsoratorium“ einmal so richtig durchschütteln zu lassen. Emotionen für ein ganzes Jahr.
Kaum ein Musiker, kaum eine Musikerin, die kein Weihnachtslied im Oevre hat. Es gibt ein Weihnachtsalbum von Helene Fischer und eine versoffene Version von „Stille Nacht“ von Tom Waits („Christmas Card from a hooker in Minneapolis“). Vom „Winter Wonderland“ von Radiohead über „Merry Christmas (I don’t wanna fight tonight)“ von den Ramones bis zum HipHopper Kanye West, der mit „Christmas in Harlem“ den Konsumterror zum Thema hat. Wie löblich. Sogar der umstrittene Kollegah cruist in „Bosshafte Weihnachten“ in einer Angeberkarre durchs adventliche Berlin.
Und wir selbst? Sagt es etwas über uns, ob wir bei „Oh du Fröhliche“ oder „Tochter Zion“ stärker erschauern? Ob wir mit sieben alle acht Strophen von „Ihr Kinderlein kommet“ auswendig konnten oder uns lieber an die verballhornten Versionen von „Oh Tannenbaum“ hielten („Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, die Oma hängt am Gartenzaun...“)? Ob uns ein Blockflötentrauma bis heute den Zugang zu „Leise rieselt der Schnee“ versperrt? Vielleicht. Zumindest ergeben sich daraus immer gute Gesprächsthemen. Und gerade davon braucht man an den Feiertagen erfahrungsgemäß einige.
An Weihnachten ist die Hoffnung in der Welt. Für Maria und Josef, die in einem Stall Eltern werden. wie für das namenlose Paar in der New Yorker Spelunke.
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