Zukunft der Kirche: „Wir müssen gewohntes Terrain verlassen“
Frau Brauer-Noss, der Titel Ihrer Dissertation von 2017 lautet „Unter Druck. Kirchenreform aus der Leitungsperspektive.“ Welche Erkenntnisse daraus nehmen Sie in Ihren Alltag als Gemeindepfarrerin mit?
Dass wir uns immer in Umbruchs- und Anpassungsphasen befinden werden. Gesellschaftlicher Wandel wird die Kirche immer betreffen, mal mehr, mal weniger. Die Kür dabei ist, dass wir uns bei diesen Prozessen nicht zu sehr auf uns selbst konzentrieren. Viel wichtiger ist es, dabei weiterhin als Kirche, mit unseren ureigenen Themen, nach außen sichtbar zu sein. Wir brauchen Strukturanpassung auf der einen Seite, aber ohne den eigentlichen Sinn von Kirche aus dem Blick zu verlieren: Menschen von Gottes befreiender Liebe zu erzählen.
Sie sprechen ein Spannungsfeld an: Die Kirche steht inhaltlich für bestimmte Werte und Traditionen, als Organisation muss sie sich aber Erwartungen von außen stellen. Ist das eine Zerreißprobe?
Ja, so ist es. Der Glaube ist die Grundlage von Kirche. Und diese Grundlage entzieht sich jeder Entscheidungsabwägung und jedem Gestaltungsspielraum. Glaube lässt sich nicht organisieren, denn es geht immer um die Verkündigung des Wortes Gottes in der Versammlung der Gläubigen. Das ist die Basis, das Fundament. An dieser Stelle prallen Anpassungsversuche ab. Glaubensinhalte können nicht von Mehrheitsmeinungen abhängig gemacht werden. Würde man die Kirche ausschließlich als moderne Organisation verstehen, müsste sie aber genau das tun.
Das klingt nach einer Sackgasse.
Das sehe ich anders. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass das eine nicht ohne das andere funktioniert. Keine Verkündigung ohne die Organisation, die diese Arbeit ermöglicht. Die Perspektive ist entscheidend. Trotz aller Veränderungen oder Anpassungen, die es ja gab und gibt, hat sich an der Grundlage von Kirche nichts verändert.
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau hat unter dem Motto „ekhn2030“ einen Zukunftsprozess ins Leben gerufen. Der Wunsch nach Modernität bleibt.
Und das ist auch gut und richtig. Die Situation verlangt danach: Mitgliederschwund, Vertrauensbruch, die gesellschaftliche Relevanz von Kirche. Wir müssen es wagen, alternativ zu denken, Dinge auszuprobieren. Wir dürfen keine Angst vorm Scheitern haben und sollten selbstbewusst auftreten. Ich habe mich voriges Jahr am Himmelfahrtstag im Talar auf mein Fahrrad gesetzt und bin durch den Stadtteil geradelt, unterwegs habe ich an Straßenecken und Plätzen öffentlich Andachten gefeiert und und dabei erklärt, dass der Feiertag was mit Kirche zu tun hat.
Verstehe ich das richtig, dass Sie die Lage gar nicht so ernst finden?
Wir stehen definitiv an einem Wendepunkt. Die Lage ist aber nicht hoffnungslos. In multiprofessionellen Teams zu arbeiten, die Kirche weiter bedarfs- und sozialraumorientiert auszurichten – das sehe ich nicht nur als Belastung. Darauf freue ich mich sogar!
Was kommt auf die Kirchenbasis in den kommenden Jahren zu?
Zuallererst dürfen wir keine Angst vor Veränderungen haben. Sicherlich müssen wir gewohntes Terrain verlassen. Wir müssen raus aus der Komfortzone. Es braucht Mut, um unsere Schätze im Acker zu bergen. Wir brauchen einen Wechsel von Kirche als Durchführerin hin zu Kirche als Ermöglicherin. Wer sich auf diesen Weg einlässt, wird auch in den nächsten Jahren Freude in und an der Kirche haben.
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