„Wir müssen viel erwachsener mit Kirchenaustritten umgehen“
Herr Albrecht: Die Kirchenaustrittszahlen in Deutschland sind unvermindert hoch. Welche Herausforderung ist das für die evangelische Kirche?
Albrecht: Erst einmal sollten wir Menschen, die sich für einen Austritt entscheiden, respektieren. Wir als Christ:innen stehen für bestimmte Positionen, aber es ist es doch völlig in Ordnung, wenn jemand sich dagegen entscheidet, weil es ihn nicht anspricht oder er das auch anders sieht. Wir müssen sehr viel erwachsener mit diesen Austritten umgehen.
Muss die Kirche denn nicht etwas gegen den Trend unternehmen?
Es gibt Austritte, die nicht zu verhindern sind. Menschen, die wir in den ersten zwanzig Jahren ihres Lebens nicht erreicht haben, und die dann beim ersten Arbeitsplatz sehen, dass sie Kirchensteuern zahlen müssen, denen kann man es doch nicht verdenken, wenn sie austreten. Das würde ich auch aus einem Verein, bei dem ich irrtümlicherweise noch Mitglied bin. Es gibt viele Austritte, die haben Ursachen, die in diesem Moment nicht mehr zu korrigieren sind.
Viele Menschen treten aber auch aus, weil sie sich über die Kirche ärgern, oder?
Das spielt momentan auf der katholischen Seite eine Rolle, aber bei den Evangelischen gibt es erstaunlich wenige Menschen, die aus einer konkreten Verärgerung austreten, also weil wir in einer bestimmten Situation dies oder das gemacht haben. Ich warne sehr davor, unser Verhalten von potenziellen Austritten abhängig zu machen. Es treten Leute aus, weil wir ein Flüchtlingsschiff ins Mittelmeer schicken, und es treten welche aus, weil wir nicht zehn solcher Schiffe schicken. Wir müssen das tun, was wir aus unserer Überzeugung und aus unserem Glauben heraus für richtig halten, und wenn es Leute gibt, die das ablehnen, dann müssen wir damit leben.
Welche christlichen Inhalte, die vielleicht nicht mehrheitsfähig sind, halten Sie für besonders wichtig?
Nach meiner Beobachtung gibt es zwar in ethischen, gesellschaftlichen und politischen Fragen auch immer wieder Menschen, die unsere Position nicht teilen. Doch wirklich gar nicht mehr mehrheitsfähig sind wir, wenn wir eine Ebene tiefer gehen und nach den Glaubensdingen fragen, die unseren Entscheidungen oft zu Grunde liegen.
Welche zum Beispiel?
Christ:innen gehen davon aus, dass es Dinge gibt, die nicht machbar sind, dass es nicht immer die „intelligenten Lösungen“ sind, die weiterbringen, sondern dass zu einem gelingenden Leben auf dieser Welt auch Verzicht und Vergebung, Widerstand und Ergebung gehören.
Kann die Kirche von denen, die sich abwenden, etwas lernen?
Ich lerne von jedem etwas Neues. Natürlich oft, was wir besser machen können. Aber lieber noch entdecke ich Fremdes in scheinbar Vertrautem neu, staune und erschrecke sogar mit meinen Gesprächspartner:innen. Oft ist es ein heilsames Erschrecken. Im Gespräch mit muslimischen Geschwistern merke ich zum Beispiel oft, was für ein Skandal das tatsächlich ist: Wir glauben einem Gott, der von Menschen ermordet wurde.
Ist der Verzicht darauf, Menschen für ihren Kirchenaustritt zu kritisieren, ein Abschied von dem Bemühen, die ganze Breite der Bevölkerung anzusprechen und in der Kirche zu halten?
Nein, auf keinen Fall. Es geht bei diesem Bemühen um die Menschen ja nicht darum, sie in der Kirche zu halten. Ich möchte sie für Gott und ihre Liebe begeistern. Und genau deswegen, weil es um Liebe geht, findet mein Bemühen seine Grenze, wenn jemand sagt: Ich komme gut ohne Gott und die Kirche klar.
Die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags, Kristin Jahn, hat Kirchenaustritte als „Erlösung“ vom System der Volkskirche bezeichnet und setzt auf eine Minderheiten- und Freiwilligenkirche. Wie sehen Sie das?
„Erlöst“ werden kann ich nur von etwas Schlimmem oder Schrecklichem. Die Volkskirche ist beides nicht. Es kann aber wirklich sein, dass ihre Zeit vorbei ist, das erlebe ich dann auch schon so, wie Kristin Jahn: Wir stehen gerade in einem riesengroßen Transformationsprozess. Dazu habe den Sommer über sehr viele wunderbare Gespräche geführt und neue Erkenntnisse gewonnen.
Welche zum Beispiel?
Ich denke gerade viel über eine „Kirche ohne Geld“ nach und versuche, aus dem Jahr 2060 auf die Zeit heute zu schauen: Wie könnte eine Kirche ohne eigene Gebäude, mit kaum noch hauptamtlichem Personal und so weiter aussehen? Was lernen wir von lebendigen Gemeinden weltweit, die jetzt schon so leben?
2 Kommentare
Menschen wenden sich von dem ab, das für sie belanglos geworden ist. Die Kirche hat offenbar nichts mehr zu bieten, das von Interesse sein könnte. Dabei war der christliche Glaube in seinen Anfängen die progressivste Kraft in der Welt. Das ist er dem Wesen nach auch heute noch. Aber wenn man Menschen unterschiedslos Jahrzehnt für Jahrzehnt nur anpredigt, muss der Glaube oberflächlich bleiben. Das ist als würde man einen Zwölftklässler das gleiche lehren wie einen Schulbeginner. Menschen müssen im Glauben geschult werden, wie man in den weltlichen Dingen geschult wird. Nur dann kann Glaube kompetent sein und dem naturwissenschaftlich sozialisierten Menschen wieder Sinn und Hoffnung geben, indem er erst einmal die Grenzen der Naturwissenschaft aufzeigt und die hinter der naturwissenschaftlich erforschbaren Welt, das Unsichtbare, aber Erlebbare aufzeigt.
Hier zeigt sich die ganz Tragödie. Eine Kirche, die so fest davon überzeugt ist, alles richtig zu machen und völlig selbst-referenziell sich darin ständig wieder bestärkt, das Änderung und Umkehr nicht nötig sind. Wenn die Menschen uns verlassen, brauchen Sie uns nicht, wenn die Menschen uns nicht brauchen, machen wir was falsch. Mit Austritten "erwachsener" umgehen, heißt also, diese fundamentale Kritik weiter zu ignorieren. Das ist kindisch. Wir müssen das ganze Schiff drehen, es muss um die Mitglieder gehen, nicht um die Hauptamtlichen. Diese haben sich von der Mitgliedschaft vom Kirchenvolk völlig entfremdet und dienen sich nur noch gegenseitig. Die Verharmlosung und Relativierung der Kirchenaustritte, die Umdeutung dessen, was sie sind, nämlich die fundamentalste und heftigste Kritik an der bestehenden Kirche, ist unverantwortlich und ein peinlicher aber durchschaubarer Versuch, vom eigenem Versagen und der eigenen Verantwortung abzulenken.