„Wir brauchen Vielfalt in den Gemeinden“
Frau Scherf, als Sie in den 1990er Jahren Ihr Vikariat antraten, waren Sie als angehende Pfarrerin zwar insgesamt keine Pionierin – aber so selbstverständlich wie heute waren Frauen im Talar nicht. Was hat sich seitdem verändert?
Ich freue mich sehr, dass wir nach all den Jahren und Jahrzehnten endlich an dem Punkt angekommen sind, dass Frauen als Pfarrerinnen in unserer Kirche als selbstverständlich angesehen werden. In den Gemeinden der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau sind inzwischen zu 43 Prozent Frauen im Pfarrdienst aktiv. Theologie studieren im Moment sogar mehr Frauen als Männer – 61 Prozent der Studierenden sind weiblich. Die EKHN war in dieser Hinsicht von Anfang an besonders fortschrittlich.
Inwiefern?
Schon im Dezember 1970 wurde landeskirchenintern ein Gesetz verabschiedet, das Frauen und Männer im Pfarrdienst als gleichberechtigt anerkannte. Außerdem wurde die Möglichkeit eingeräumt, Erziehungsurlaub zu nehmen, was natürlich auch für die Männer galt. Da war die EKHN sogar weiter als die staatliche Gesetzgebung zu der Zeit.
Wann zog die letzte Landeskirche nach?
Tatsächlich erst 1991. Das war die Landeskirche Schaumburg-Lippe, ein extremes Beispiel. Aber es zeigt, dass die Selbstverständlichkeit von Pfarrerinnen lange nicht überall gegeben war. Als ich studierte, hatten Pfarrer in Bayern noch ein Vetorecht gegen die Zusammenarbeit mit einer Kollegin in der Gemeinde. Schritt für Schritt wurden Frauen auch in Leitungsämtern präsenter. Prominente Beispiele sind etwa Waltraud Frodien, die erste Dekanin in der EKHN. 1980 gewählt, übte sie ihr Amt 18 Jahre lang in Frankfurt aus. Ein Meilenstein war natürlich auch die Wahl von Helga Trösken zur Pröpstin 1988. Sie war die erste Frau in einem bischöflichen Amt in Deutschland. Ich freue mich sehr über die Entwicklung seit damals. Wir brauchen Vielfalt in den Gemeinden. Vielfalt bedeutet nicht nur Männer und Frauen im Pfarrberuf, sondern Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Prägung im Pfarrberuf.
Es scheint, als ob die Moderne in den Städten früher Einzug hielt.
Nein, das kann man so nicht sagen. Interessanterweise waren es oft sogar ländliche Gemeinden, die einer Pfarrerin gegenüber offener waren. Auf dem Land war der Pfarrer:innenmangel oft groß. Da hieß es dann: „Wir brauchen dringend einen Pfarrer, dann halt eine Frau!“ Die Pfarrerinnen waren dort schnell anerkannt. Im urbanen Umfeld hatten Gemeinden eine größere Auswahl.
Mussten Sie selbst auch kämpfen?
Ich war zumindest im Kleinen doch immer eine Pionierin. In der ersten Gemeinde war ich die erste Frau als Vikarin, in meinen beiden Gemeinden, in denen ich später als Pfarrerin tätig war, war ich die Erste, dann im Dekanat Bergstraße die erste Dekanin. So etwas prägt natürlich schon.
In den 1970er Jahren gab es einen Boom des Theologiestudiums, viele junge Menschen waren politisch interessiert und aktiv und brachten das auch ins Pfarramt ein. Heute hat man manchmal den Eindruck einer gewissen Re-Traditionalisierung, auch in den Kirchengemeinden. Deckt sich das mit Ihrer Wahrnehmung?
Nein, nicht unbedingt. Vielfalt in die Gemeinden bringen heißt allerdings auch, dass verschiedene Herangehensweisen durchaus erwünscht sind. Es gibt ja ganz unterschiedliche Gemeinden. Wenn eine etwas konservativer geprägt ist, passt eine Pfarrerin oder ein Pfarrer mit einem eher traditionellen Orientierung vielleicht gut dorthin. Wichtig ist allerdings, das Eigene nicht zur Norm zu machen, sondern andere Lebens- und Frömmigkeitsstile zu respektieren.
Welche Bedeutung hat Ihrer Beobachtung nach die feministische Theologie bei jungen Pfarrerinnen?
Für manche spielt das Thema Gender und Glauben eine extrem große Rolle, für andere weniger. Ich kenne durchaus junge Pfarrerinnen, die sagen: Es ist doch inzwischen alles gleichberechtigt. Unterschiede gibt es nicht mehr, Diskriminierung auch nicht. Es freut mich, wenn junge Frauen das so erleben und da so unbefangen herangehen können. Ich bin aber überzeugt, dass es trotzdem wichtig ist darauf zu achten, dass die Gleichberechtigung gelebte Praxis ist und bleibt. Ich kenne übrigens auch junge Pfarrer, die selbstverständlich inklusiv sprechen und für die die Themen feministischer Theologie wichtig sind.
Zur Person:
Seit Februar 2013 hat Ulrike Scherf, Jahrgang 1964, das Amt der Stellvertretenden Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) inne. Die Pfarrerin und ehemalige Dekanin des Evangelischen Dekanats Bergstraße war 2012 erstmals von der Kirchensynode der EKHN für eine Amtszeit von acht Jahren gewählt worden und wurde 2019 für weitere acht Jahre wiedergewählt. Sie widmet sich auch personalpolitischen Themen, vor allen den Entwicklungen des Pfarrberufs und anderer kirchlicher Berufe, der Gewinnung und Förderung von Mitarbeitenden sowie deren Chancengleichheit.
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