„Demokratie ist nicht nur eine Frage von Mehrheiten“
Frau Tietz, was ist Ihre Aufgabe als Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau? Ist das vergleichbar mit einem Bischof?
Ja, das ist vergleichbar mit den Aufgaben eines Bischofs oder einer Bischöfin. Die Kirchenpräsidentin vertritt die EKHN nach außen. Sie hat den Vorsitz in der Kirchenleitung inne und trägt gemeinsam mit der stellvertretenden Kirchenpräsidentin und den Pröpstinnen und Pröpsten zur geistlichen Orientierung der EKHN bei. Und sie darf in eigener Verantwortung zu zentralen Fragen der Kirche, der Theologie und der Gesellschaft Stellung nehmen. Insofern ist sie eines der öffentlichen Gesichter der EKHN.
Sie sind mit einer großen Zweidrittel-Mehrheit gleich im ersten Wahlgang gewählt worden, hat Sie das überrascht?
Ja, das hat mich sehr überrascht und sehr gefreut.
Sie sagten nach der Wahl „Ich stehe für ein Miteinander von Innovation und dem, was aus guten Gründen auch heute noch trägt.“ Wenn Sie das jeweils an einem Beispiel konkretisieren: Was muss dringend erneuert werden? Und was muss unbedingt bleiben?
Kirche muss dort sein, wo man sie nicht unbedingt erwartet: zum Beispiel auf dem Römerberg oder der Zeil für Segensangebote. Solche Angebote leben zu einem gewissen Teil von einem Überraschungsmoment. Diesen gibt es aber nur, solange Kirche auch dort ist, wo man sie erwartet, also auch Gottesdienste in Kirchengebäuden feiert. Die Kirchengebäude sind ein großer Schatz unserer Kirche. Hier erleben Menschen seit vielen Generationen Gemeinschaft und begegnen Gott. Und sie prägen das Ortsbild, auch in Frankfurt mit dem Dom oder der Nikolaikirche. Kirche ist in der Stadt sichtbar auch durch ihre Gebäude. Gleichzeitig wollen wir, auch aus finanziellen Gründen, diese Kirchen in Zukunft vielfältiger nutzen, damit neue Formen von Gottesdiensten dort möglich sind, aber auch andere Veranstaltungen wie Feste und kulturelle Angebote. Wir nennen diese Perspektive „Kirche kann mehr“.
Die EKHN ist als Kirchengebiet in großen Teilen ländlich geprägt, es gibt aber auch große Städte und Metropolengebiete wie Frankfurt-Offenbach, in denen sich viele Problemlagen früher und anders zeigen. Wie sehen Sie das Verhältnis von Stadt und Land aus kirchlicher Perspektive?
Die Kirche hat in vielen Gegenden auf dem Land eine andere Bedeutung als in der Stadt. Auf dem Land gibt es Gebiete, in denen die Mitarbeit in der Kirche selbstverständlich dazu gehört, so dass sich zum Beispiel viele im Kirchenvorstand engagieren, die auch andere Bereich des Lebens im Ort mitgestalten. In der Stadt wiederum wird es schneller akzeptiert, dass man in einen anderen Stadtteil fährt, um dort ein kirchliches Angebot wahrzunehmen. Es ist gut, wenn wir bei unserem Transformationsprozess diese Unterschiede mit warmherzigem Augenmaß wahrnehmen.
Sie haben sich auch für das diakonische Engagement stark gemacht. Was ist für Sie das christliche Alleinstellungsmerkmal bei diakonischen Einrichtungen?
Diakonisch zu handeln ist ein unverzichtbares Element des christlichen Lebens. Der Dienst am Menschen - und zwar an jedem Menschen, der auf Hilfe angewiesen ist - gehört zu unserer Identität als Kirche. Wir versuchen darin dem Vorbild von Jesus zu folgen. So sind wir mit unserer diakonischen Arbeit, die sich gegen gesellschaftliche Ungleichheit wendet, eine wichtige soziale Säule unserer Gesellschaft.
In Frankfurt und Offenbach sind im Schnitt nur noch 12 Prozent der Bevölkerung evangelisch, vor hundert Jahren waren es noch an die 90 Prozent. Was bedeuten solche Zahlen für die Institution Kirche?
Sie zeigen deutlich an, dass sich die Stellung der Kirche in der Gesellschaft verändert hat. Wir sind jetzt eine Stimme unter vielen. Hinzu kommt, dass der christliche Glaube nicht mehr wie früher selbstverständlich von Großeltern und Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Deshalb ist es mir ein besonderes Anliegen, Formate zu stärken, in denen Kinder, Jugendliche und ihre Familien christliche Religiosität erleben.
Sollten wir an der Idee der „Volkskirche“ festhalten oder uns darauf einstellen, dass Evangelische Kirche ein spezieller Klub mit klarem „evangelischen Profil“ wird, der sich auch in der Abgrenzung zu anderen Milieus definiert?
Wir sind nicht mehr „Volkskirche“ wie früher, als die Mehrheit der Menschen zur Kirche gehörte. Ich verstehe den Begriff der „Volkskirche“ aber nochmal anders, und in dieser Weise halte ich den Gedanken für die Zukunft der evangelischen Kirche für wichtig: Wir wollen offen bleiben für ganz unterschiedliche Milieus, für Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, Frömmigkeitsstilen, politischen Überzeugungen. Das ist herausfordernd. Es wäre einfacher, sich nur auf klar abgrenzbare Milieus einzustellen. Ich sehe in dieser großen Weite und Vielfalt aber eine unserer Stärken als evangelische Kirche.
Was ist wichtiger: Nach innen Verbundenheit innerhalb der evangelischen Gemeinde herzustellen oder nach außen in die säkulare Gesellschaft hinein zu wirken?
Beides ist wichtig. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung aus dem letzten Jahr hat das deutlich herausgestellt: Wir müssen zu den Menschen gehen, die lose mit der Kirche verbunden sind, und gleichzeitig die traditionell Verbundenen behalten. Beides gehört zum Christsein dazu: Gemeinschaft mit anderen Christinnen und Christen und das Engagement in der Gesellschaft und Erzählen von unserem Glauben. Dabei gibt es aber keine scharfen Grenzen zwischen innen und außen. Denn auch glaubende Menschen kennen Zeiten, in denen sie nicht glauben. Und die Gesellschaft ist ja nicht nur säkular.
Die Notwendigkeit zum Sparen ist sehr groß. Was vom derzeitigen Aufgabenspektrum der Kirche kann weg? Oder sollten wir im Gießkannenprinzip überall ein bisschen sparen?
Die EKHN-Synode diskutiert genau das immer wieder sehr intensiv. Sie fällt die Entscheidungen, in welchen Bereichen Einsparungen erbracht werden müssen. Ich halte es für einen sinnvollen Schritt, jetzt die Verwaltungsarbeit in der Kirche so zu verändern, dass sie vom Nachbarschaftsraum aus gedacht wird und somit vor allem die Arbeit vor Ort unterstützt. Aber wir brauchen Verwaltungsarbeit darüber hinaus weiterhin auch dort, wo sie regionale und EKHN-weite Instanzen unterstützt, die für die gesellschaftliche und politische Wirksamkeit und Sichtbarkeit unserer EKHN wichtig sind. Das ist nicht nur inhaltlich richtig, diese Logik führt auch zu Einsparungen.
Ist der traditionelle Sonntagsgottesdienst noch zeitgemäß?
Ich finde es sehr gut, dass wir andere Tage, Uhrzeiten und Formate für Gottesdienste ausprobieren, Star Wars-Gottesdienst, ein Sekt-und-Segen-Gottesdienst, Literaturgottesdienst, Tauffeste. Es ist großartig, wie viele unterschiedliche, innovative Ideen zurzeit entstehen. Gleichzeitig gibt es auch viele „traditionelle“ Sonntagsgottesdienste, in denen Menschen berührt und gestärkt werden. Ich bin nicht der Meinung, dass wir den Sonntagsgottesdienst aufgeben sollten. Der Sonntag ist in der Geschichte der Christenheit der Tag des Gottesdienstes, an dem wir die Auferstehung Jesu feiern. Von dieser Tradition her gibt es in unserer Gesellschaft den Sonntag als „staatlich geschützte Entschleunigungsoase“ (Hartmut Rosa). Die Zeit dieses Tages tickt anders als die Zeit der Werktage. Ohne Sonntag gäbe es nur noch Werktage – oder, wie Luther sie nennt, „Werkeltage“. Indem wir am Sonntag Gottesdienst feiern, markieren wir die Besonderheit dieses Tages.
Wie beurteilen Sie die „religiöse Großwetterlage“: Hat Religion eine Zukunft? Welche?
Weltweit sind Religionen keineswegs im Rückgang. Europa ist die Ausnahme, nicht die Regel. Mir ist wichtig, dass wir als evangelische Kirche nicht nur allgemein für Religion als kulturelles Phänomen eintreten, sondern für den christlichen Glauben. Es zeigt sich nämlich, dass Religion dann das Leben von Menschen prägt, wenn sie inhaltliche Kontur hat. Wenn wir nur sagen würden, unsere Botschaft als evangelische Kirche sei, dass das Leben sinnvoll ist und dass wir unsere Welt gestalten können, dann wäre mir das zu wenig. Eine solche Sicht auf die Welt kann man auch gut ohne Religion vertreten. Auch ein atheistischer Philosoph kann so formulieren. Wenn wir als Kirche hingegen vom christlichen Gott sprechen, zu dem ich beten kann, der mein Leben schöpferisch, versöhnend, erlösend, aber auch orientierend prägt, mit dem ich aber auch streiten kann, dann hat dies konkrete Auswirkungen auf mein Leben. Dann kann ich meinen Alltag ganz konkret zu Gott in Beziehung setzen. Dann bringt mich dies ins theologische Nachdenken, wie dies genauer zu verstehen ist. Dann will ich von anderen Menschen wissen, welche Rolle Gott in ihrem Alltag spielt. Ich nehme es übrigens in meinen interreligiösen Gesprächen so wahr, dass dieses Sprechen über die konkrete Gestalt der jeweiligen Religion eine interessantere und anregendere Perspektive ist, als wenn man nur nach dem kleinsten gemeinsamen und damit doch eher konturlosen Nenner zwischen den Religionen suchen würde.
Wir erleben in Europa einen dramatischen politischen Rechtsruck zur Zeit. Welche Herausforderungen/Aufgaben liegen darin für die evangelische Kirche?
Ich sehe eine wichtige Aufgabe darin, dass wir uns als evangelische Kirche für die Demokratie einsetzen. Und dass wir dabei deutlich machen: Demokratie ist nicht nur eine Frage von Mehrheiten. Zur Demokratie gehören die Würde jedes Menschen und das Achten der Menschenrechte. Dazu gehören unter anderem die Gleichheit und Freiheit aller Menschen, die Gleichberechtigung der Geschlechter und das Verbot, andere zu diskriminieren. Als evangelische Kirche teilen wir diese Werte und kämpfen gegen jede Form von Nationalismus oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Wie offen sollte die EKHN für zum Beispiel die AfD sein? Sollten AfD-Mitlieder kirchliche Ämter übernehmen können?
AfD-Mitglieder können aus meiner Sicht die Kirche nicht repräsentieren. Man kann nicht gleichzeitig für völkische und menschenfeindliche Positionen eintreten und für den christlichen Gott, der allen Menschen freundlich zugewandt ist.
Insbesondere die Migration ist unter Beschuss, auch fast alle anderen Parteien fordern eine härtere Gangart gegenüber Flüchtlingen und anderen Immigranten. Wie stehen Sie dazu? Welche Positionen sollte die Kirche hier einnehmen?
Die konkreten Entscheidungen müssen auf politischer Ebene ausgehandelt werden. Was wir als Kirche machen können, ist, gegen Vorverurteilungen ganzer Menschengruppen Stellung zu beziehen. Es ist wichtig, dass Terrorismus und Gewalt mit aller Härte des Gesetzes bekämpft werden. Aber es darf nicht zu Maßnahmen kommen, die die Menschenwürde mit Füßen treten. Und wir sollten in einem Ton über Menschen sprechen, der respektvoll ist. Einen menschenverachtenden Ton nehme ich dagegen wahr, wenn man formuliert, ausreisepflichtige Geflüchtete kriegten nur noch „Bett, Brot, Seife“.
Sie sind ja in Frankfurt geboren und aufgewachsen: Was ist Ihr Lieblingsort in Frankfurt?
Der Goetheturm am Rand des Frankfurter Stadtwaldes oder der Henninger Turm. Von beiden Türmen hat man einen wunderbaren Blick über die Stadt und das Umland.
Sie sagten in Ihrer Bewerbung, Sie seien „verliebt in die EKHN“? Wie äußert sich das?
Ich habe in der Bewerbungszeit gemerkt, dass ich – wie wenn man in einen Menschen verliebt ist – den ganzen Tag über die EKHN nachdenke. Vor jeder Begegnung mit Menschen aus der EKHN habe ich Schmetterlinge im Bauch. Nach jedem Gespräch geht mir das, was gesagt wurde, noch lange durch den Kopf. Und ich werde – auch das ist wie beim Verliebtsein – für die EKHN ein neues Leben beginnen, meinen Beruf wechseln, aus der Schweiz nach Darmstadt ziehen und von der ehrenamtlichen Tätigkeit in der Kirche ins Hauptamt wechseln. Darauf freue ich mich sehr.
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