Wissenschaft geht auch in spannend oder was der kleine Nemo mit Theologie zu tun hat
Preisfrage: Wenn im großen Giebelsaal unter dem Dach der Evangelischen Akademie am Römerberg kein Stuhl mehr zu ergattern ist und sich junge Menschen sogar auf dem gediegenen Parkettboden quetschen und zweieinhalb Stunden nicht von der Stelle weichen – welche Veranstaltung läuft da gerade? Gibt es etwa iPhones umsonst?
Nein, gibt es nicht. Gratis gibt es an diesem Abend ein Feuerwerk fürs Gehirn, dargeboten von acht jungen Theologinnen und Theologen, die noch mit einem Fuß in der Universität stehen, zum Beispiel, weil sie gerade promovieren.
Die Regeln sind streng: Aktuelle theologische Forschung muss unterhaltsam in einem jeweils zehnminütigen Vortrag auf die Bühne gebracht werden, Requisiten sind ausdrücklich erlaubt, genauso wie Verweise auf Popkultur und die Welt des Digitalen. Und am Ende wird – wie aus Poetry Slams bekannt – per Akklamation eine Siegerin oder ein Sieger gekürt. In diesem Fall gibt es für den ersten Platz einen Sieges-Kranz und 30 Flaschen Wein.
Der Schlagabtausch beginnt. Den Anfang macht Adrian Schleifenbaum, der sich Definition und Kritik des Begriffs der „Kirche“ als Institution widmet. Was sperrig klingt, ist es überhaupt nicht. Was ist Tradition? Welche Traditionen finden wir sinnvoll, welche nicht? Schleifenbaum zeigt das Foto einer anglikanischen Pfarrerin in einem Londoner Brennpunktviertel, die auf den Talar verzichtet – auch deshalb, weil ihre Zuhörerinnen und Zuhörer meist in Jogginghosen erscheinen. „Institutionen sind nicht in Stein gemeißelt“, sagt Schleifenbaum.
Zu einem „Göttlichen Anders-Seh-Training“ lädt die Darmstädterin Christine Lungershausen ein. In ihrem Vortrag lässt sie einen kleinen Jungen erstmals die vom Leipziger Künstler Neo Rauch gestalteten Kirchenfenster in der Naumburger Domkapelle sehen – und sich seine Gedanken dazu machen. „Kunst bildet unsere Religiosität“, ist ihre These. Wichtig sei auch: „An Kunst lernen wir, Sichtweisen zu wechseln, während Menschen von der Kanzel meist die eine Wahrheit hören möchten, die es aber gar nicht geben kann. Denn Glaube ist eine Differenzerfahrung.“
Sind die Eigenarten der digitalen Welt ein neues Phänomen? Nein, glaubt Tobias Dienst, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Uni Heidelberg. „Filterblasen und Hatespeech hat es auch schon vor 400 Jahren gegeben“, sagt er. Seine These leitet er aus den so genannten „Theologischen Kontroversschriften“ her, die im Nachklapp der Reformation vor 500 Jahren den geistigen Diskurs befeuerten. Gewettert wurde damals von allen Seiten gegen die jeweils andere Konfession, und es fielen durchaus Schimpfwörter. Der Papst wurde zuweilen als „Antichrist“ bezeichnet. Und ähnlich wie bei heutigen Facebook-Scharmützeln diente die Auseinandersetzung vor allem der eigenen Selbstvergewisserung. Eine schlechte Sache? Ach was, findet Tobias Dienst: „Konkurrenz belebt das Geschäft.“
Martin Lüstraeten widmet sich in seinem Vortrag der Besessenheit und beleuchtet das ewige Faszinosum Exorzismus. Johanna Hammann nimmt sich ein anderes großes Gefühl vor: die Sehnsucht. „Religiös interessierten Menschen geht es wie Motten, die auf das Licht zufliegen“, sagt sie. Religion sei ein Teil des kulturellen Gewebes, die Sehnsucht werde in Popsongs oder Filmen thematisiert. Wenn etwa der kleine Clownfisch Nemo seinen Papa sucht und erst in die Fänge eines bösen Tauchers und schließlich in ein Aquarium gerät, dann sei das quasi eine kollektive menschliche Urerfahrung. Oder der kleine Müllroboter Wall-E, der auf einer desolaten, dystopischen Erde lebt. Manche Filme, so Hammann, schaffen es sogar, „selbst Maschinen mit diesem himmlischen Feuer, von dem der Theologe Friedrich Schleiermacher schrieb, anzustecken.“
Nächstes Thema: Wie viel Tier braucht eine christliche Ethik? Taugt der Begriff der Erschütterung als anonyme Kategorie der spätmodernen Praktischen Theologie? Das sind weitere Fragen an diesem Abend, die Christian Müller und Mirjam Stahl stellen.
Gebannt lauscht das Publikum auch, als Helge Bezold, der an der Uni Gießen im Fach Altes Testament promoviert, das Ende des Buches Esther aus dem Alten Testament neu deutet. Die biblische Erzählung beschreibt die Umkehrung eines geplanten Genozids an den Juden im persischen Reich, am Ende steht die Schilderung eines Blutbades: 75.000 Männer werden getötet, als Rache für Unrecht, das den Juden widerfahren ist. Eine schwierige, blutrünstige, häufig antisemitisch rezipierte Geschichte. Helge Bezold argumentiert aber, dass sie symbolisch für all das Unrecht steht, dass den Juden tatsächlich passiert ist – und vor dem Hintergrund des Holocausts noch einmal ganz anders gelesen werden müsse.
Seine Herleitung, anschaulich und sprachmächtig dargeboten, beeindruckt das Publikum. Am Ende erntet Helge Bezold die meisten hochgehaltenen Pappschilder mit der Aufschrift „Yeah“ – und darf sich den Siegerkranz aufsetzen.