Prodekan Kamlah: „Wir müssen nicht jeden Sonntag in jeder Gemeinde Gottesdienst feiern“
Herr Kamlah, warum kommen nur noch so wenige Leute in den Sonntagsgottesdienst?
Historisch gesehen ist das kein neues Phänomen. Es gibt auch Schriften aus dem 18. Jahrhundert, in denen sich Pfarrer über den schlechten Gottesdienstbesuch ihrer Gemeindemitglieder beschweren. Die Grundeinsicht des Protestantismus, dass man keine Kirche braucht, um die eigene Gottesbeziehung zu pflegen, beinhaltet auch die Freiheit, nicht in den Sonntagsgottesdienst zu gehen. Seit Luther haben Protestanten das ernst genommen. Deswegen war der Gottesdienstbesuch statistisch gesehen wohl schon immer geringer als in der katholischen Kirche.
Und heute?
Heute ist unser aller Leben immer weniger durch Traditionen geprägt. Während es zumindest auf dem Land lange Zeit noch „common sense“ war, dass sonntags zumindest ein Familienmitglied in den Gottesdienst ging und man so naturgemäß für eine Gemeinde sorgte, ist es heute so, dass der regelmäßige Gottesdienstbesuch als Teil eines traditionellen Wochenrhythmus höchstens noch in der älteren Generation vorhanden ist.
Dann brauchen wir bald keine Gottesdienste mehr?
Doch, auf jeden Fall. Es ist ja auch nicht so, dass wir Menschen nicht für unsere Gottesdienste gewinnen könnten. Alle Pfarrerinnen und Pfarrer erzählen, dass sie in ihren Gemeinden lebhafte, schöne, inspirierende und volle Gottesdienste feiern. Aber eben nicht jeden Sonntag. In Frankfurt und Offenbach gibt es Gemeinden mit einem relativ guten Gottesdienstbesuch, und in anderen ist die Anzahl an vielen Sonntagen sehr überschaubar.
Was heißt das in Zahlen?
Alles über dreißig Besucherinnen und Besucher halte ich in einer Großstadt für einen relativ guten Gottesdienstbesuch. Zumindest an einem ganz normalen Sonntag, an dem nichts Besonderes stattfindet, also keine Taufe, keine musikalische Besonderheit, kein besonderer Prediger oder ähnliches.
Aber auch dreißig können ziemlich verloren wirken.
Es gibt noch eine fundamentale Veränderung: Die Sonntagskultur ist ganz anders geworden. Heute wollen zum Beispiel viele Familien am Sonntag nicht hetzen, sie frühstücken zwischen zehn und elf, brechen dann in den Tag auf, kochen am frühen Abend. Der 10 Uhr-Gottesdienst passt einfach nicht mehr in diesen Rhythmus. Es ist nicht zwingend so, dass Menschen mit dem Gottesdienst grundsätzlich nichts mehr anfangen können. Viele sind prinzipiell bereit zu partizipieren, aber eben nur, wenn es in ihren Rhythmus passt.
Welche Erfahrungen haben Sie selbst gemacht?
Ich hatte mein Aha-Erlebnis als Gemeindepfarrer. Wir hatten einen alternativen Gottesdienst etabliert, weil wir andere Leute erreichen wollten. Das lief sehr schön, und danach kamen Menschen auf mich zu, die ernsthaft berührt waren und signalisierten, wie sehr sie angesprochen waren, wie viel sie mitgenommen haben. Trotzdem sind sie dann beim nächsten Mal nicht wiedergekommen. Da war dann eben in ihrem Leben etwas anderes, was dazu geführt hat, dass sie eine andere Entscheidung getroffen haben. Das heißt, auch eine positive Gottesdiensterfahrung generiert keine regelmäßige Teilnahme. Thomas Hirsch-Hüffell, der gerade in den Ruhestand gegangene Gottesdienstbeauftragte der Nordkirche, hat in einem Artikel im deutschen Pfarrerblatt geschätzt, dass Protestanten in der Regel vielleicht fünf Gottesdienste im Jahr besuchen. Das finde ich eine gute Schätzung
Ist diese Tatsache in der Kirche angekommen?
Eher nicht. Wir leben immer noch in der Selbstwahrnehmung, dass wenn wir nur den richtigen Dreh finden würden, die Leute wieder jeden Sonntag in die Kirche kämen. Aber davon habe ich persönlich mich verabschiedet. Ich glaube, das wird nicht passieren. Wir müssen unser Angebot anpassen. Das Kleid ist im Moment zu groß gestrickt.
Welches Maß sollte es denn in der Frankfurter und Offenbacher Kirche annehmen?
Weniger ist mehr. Ich glaube, wir tun gut daran, weiter inspirierende, gut gestaltete, hochwertige Gottesdienste vorzubereiten. Vor allem, indem wir andere beteiligen, also nicht nur als alleinige Veranstaltung der Pfarrer und Pfarrerinnen. Ich glaube auch, Musik spielt eine wichtige Rolle. Nicht nur die klassische Orgelmusik, sondern auch modernes geistliches Liedgut. Es gibt viele Gestaltungsmöglichkeiten. Aber das braucht Zeit, braucht Ressourcen. Wir müssen nicht mehr zwingend jeden Sonntag in jeder Gemeinde Gottesdienst feiern. Kirchengemeinden in einer Region sollten gemeinsam überlegen, welche Gottesdienste wie oft gefeiert werden sollten, und dann gemeinsam planen.
In welcher Form?
Am besten in vielen unterschiedlichen Formen. Das wird ja auch schon gemacht. Wenn eine Gemeinde zum Beispiel ein tolles Familiengottesdienstkonzept hat, kann die Nachbargemeinde ja ein anderes spannendes Angebot machen. Dann können die Menschen sich aussuchen, wohin sie gehen wollen. In Ostdeutschland gibt es auch Kirchen, die sonntags geöffnet sind, obwohl kein Gottesdienst stattfindet. Dort brennt dann eine Kerze, ein Ehrenamtlicher liest vielleicht aus dem Evangelium oder betet ein Vaterunser. Das finde ich auch eine gute Möglichkeit.
Ist das nicht etwas traurig?
Nein, es ist einfach eine reduzierte Form der Andacht, eine Möglichkeit, am Sonntag in der Kirche zur Ruhe zu kommen. Der Bedarf an Gottesdiensten bleibt. Es ist ein Kern unserer Botschaft, im Rahmen eines Gottesdienstes die frohe Botschaft des Evangeliums zu verkünden.
1 Kommentar
ich bin total anderer Meinung, da ich wohl zu der aussterbenden Generation gehöre. Der regelmäßige Gottesdienst ist am gleichen Ort unabdingbar, auch wenn es enttäuschende Besucherzahlen sind. Wie er gestaltet wird bzw. ob verschiedene Formen möglich sind, ist eine andere Frage. - Es gibt auch positive Beispiele für gut gestaltete, regelmäßige Gottesdienste - sogar in traditioneller Form.