Predigt zum Sonntag: "Wie einen seine Mutter tröstet ..."
Es ist gerade mal ein paar Wochen her. Am Rosenmontag rast ein Amokfahrer mitten in den Rosenmontagszug der nordhessischen Stadt Volkmarsen. Wie aus heiterem Himmel preschte der 29-Jährige in den Karnevalsumzug und die Besucher*innen mit seinem Auto hinein. Die ausgelassene Stimmung schlug plötzlich in Entsetzen und Schrecken um. Wie mit einem Paukenschlag war es von einem zum anderen Moment mit dem Karneval vorbei. Sofort nachdem diese Schreckensmeldung die Runde machte, brachen andere Städte, in denen auch Fastnachtsumzüge stattfanden, das närrische Treiben ab. Traurige Bilanz dieser Amokfahrt: 122 Leicht- und Schwerverletzte, darunter auch viele Kinder.
Einen Tag später kommen über 1.000 Menschen in und vor der katholischen Kirche in Volkmarsen zu einem ökumenischen Gottesdienst zusammen. Die, die kommen, möchten ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringen. Sie fühlen sich verbunden mit all denen, die zufällig zu Opfern des Geschehens wurden. Die Stadt rückt näher zusammen. Die Menschen suchen Nähe, Wärme und Trost.
Es gibt Situationen, da sind wir auf Zuspruch und Trost angewiesen: so wie vor ein paar Wochen in Volkmarsen, davor nach den Anschlägen von Halle und Hanau und jetzt in Zeiten von Corona. Woher bekommen wir Trost? Um Trost geht es in dem folgenden Bibeltext, einem Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja im Alten Testament, der Hebräischen Bibel:
10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.
11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.
12 Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.
13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.
14 Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des HERRN an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden. (Jes.66, 10-14).
Dieser Text ist an die gerichtet, die aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem zurückgekehrt sind. Man kann sich vorstellen, dass solch ein Neuanfang nicht einfach war. Vielleicht mag man an den Wiederaufbau in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg denken, als Deutschland noch in Trümmern lag. Schweres liegt vor ihnen. Aber der Blick zurück ist sicher auch nicht einfach. Zwischen den Zeilen und hinter den Worten von Frieden und Trost klingen die schweren Erfahrungen des Exils hindurch: Zwangsarbeit, Bitterkeit, Tod und Elend. Das ist nicht einfach weg. Es braucht lange, um Traumatisierungserfahrungen hinter sich lassen zu können. Manche verschwinden nie.
Dennoch geht es in Jerusalem jetzt nicht um Trauer und Klage, sondern um Freude. Und zwar aus folgendem Grund:
Weil ihr saugen dürft und euch sättigen an den Brüsten ihres Trostes, weil ihr schlürfen dürft und euch erquicken an den Brüsten ihres Glanzes. (Jes.66, 11)
So vollmundig übersetzt es die Bibel in gerechter Sprache. Interessant ist zunächst: In den Prophetenbüchern werden die Städte oft als Frauen angesprochen; möglicherweise in der Entgegensetzung zu männlich bestimmter Macht und militärischer Dominanz. Und hier geht der Prophet noch weiter: es gibt Muttermilch in Hülle und Fülle. Man muss wissen, dass die Mutterbrust, die dem Baby Milch gibt, ein damals besonders anschauliches Bild für den Segen Gottes war. Denn Gott gibt, was die Menschen nicht machen oder herstellen können. Und wer von diesem Segen genossen hat, ist glücklich und zufrieden wie ein Kind.
Auffällig ist ebenfalls, dass der Prophet starke Bilder für den Trost findet, ebenfalls weiblich geprägt: „Ich will ich euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66, 13). Doch was kann Trost wirklich bewirken in solch einer harten Lage? Ist er so etwas wie ein Pflaster, das man schnell mal auf eine Wunde klebt? Und wann wird Trost zur billigen Vertröstung? Wenn ich mit Menschen spreche, die an einer schweren Krankheit leiden, merke ich, wie ich an meine eigenen Grenzen stoße. Ich würde am liebsten die Krankheit wegzaubern und aus der Welt schaffen. Doch das geht leider nicht. „Kopf hoch, es wird schon wieder!“ Wie schnell ist das dahingesagt. Da kommt es eher darauf an, eine schwierige Situation mit meinem Gegenüber auszuhalten und nicht in vorschnelle Rezepte und Antworten auszuweichen. Hier lauert die billige Vertröstung! Aber selbst, wenn ich darum weiß: Wie schwer ist es doch, in solchen Situationen das richtige Wort und den richtigen Ton zu treffen.
Wie heilsam ist ein Gespräch, bei dem der oder die andere zuhört und auf mich eingeht. So kann ich neue Lebensmöglichketen entdecken, die ich vorher nicht gesehen habe. Trost deckt das Leid nicht einfach zu oder überpinselt es mit rosa Farbe. Das wäre es nicht ernst genommen. Trösten heißt auch nicht: auf Menschen einreden, damit sie sich brav in ihr Schicksal fügen. Trösten bedeutet vielmehr, sie ernst zu nehmen, sie zu aktivieren, damit sie ihr Leben wieder in die eigene Hand nehmen können. Eine große Herausforderung, immer wieder!
Der Apostel Paulus hat einmal gesagt:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes,
4 der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.
5 Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus. (2.Kor.1, 3-5)
Wer den Trost Gottes spürt, der auch den Umweg über die Menschen nimmt, der erlebt wie man dadurch innerlich verwandelt wird. So kann ich vom Getrösteten zum Tröster für andere werden. Bundespräsident Steinmeier hat die Corona-Pandemie, die uns gerade alle im Griff hat, als Nagelprobe für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft bezeichnet. Nicht nur für die, die erkrankt sind, auch für viele andere, die Angst haben zu erkranken oder deren wirtschaftliches Überleben gerade auf eine harte Probe gestellt wird, ist Corona schwer auszuhalten.
Auch ich sehne mich in diesen frühlingshaften Tagen nach unbeschwertem Leben. Ich habe die Hoffnung, wir mögen aus dem Alptraum, in dem wir uns gerade wähnen, bald wieder aufwachen. Doch die Geborgenheit an der Mutterbrust, sie gibt es im Moment nicht. Denn uns allen sitzt die Angst tief im Nacken: Wird es auch mich treffen? Werden unsere Krankenhäuser dem erwarteten Ansturm stand halten? Werden ich und meine Familie auch finanziell die Krise heil überstehen? Fragen, auf die es im Moment keine Antworten gibt. Wir bleiben alle innerlich hoch angespannt. Die aufgenötigten „Corona-Holidays“ geben nicht das Freiheitsgefühl zurück. Auch die Aufforderung, Corona als Herausforderung für die Entschleunigung unseres Lebens zu sehen, führt nicht zur Tiefenentspannung. Denn der mediale Blick auf die Kranken und Toten schreckt immer wieder auf, irritiert und lässt uns nicht zur Ruhe kommen.
Wo uns das Virus auf körperliche Distanz zwingt, kommt es jetzt gerade darauf an, dass wir zusammenstehen und uns gegenseitig Trost spenden. In Italien im Zeichen von Corona ist es zu einem kleinen Ritual geworden, dass sich die Nachbarn allabendlich auf ihren Balkonen einfinden und dort singen. Sie singen die Nationalhymne oder populäre Schlager, die alle kennen. Sie singen gegen das Virus an. Das Singen verbindet über die erzwungene Isolation hinweg. So bleibt keiner für sich. Für mich ist das ein schönes Beispiel, wie gerade jetzt im besonders von Corona gebeutelten Italien Gemeinschaft in neuer Form entsteht.
Viele unserer Gemeinden haben in den letzten Tagen angefangen, Hilfenetze aufzubauen: damit ältere und kranke Menschen nicht unversorgt bleiben. Ich finde es sehr erfreulich, dass sich Freiwillige, gerade Jüngere, dazu bereitfinden, Milch, Brot, Käse und Wurst für die einzukaufen, die nicht aus dem Haus können. Sie halten Kontakt, helfen ganz konkret und geben den Menschen das Gefühl, dass sie nicht allein sind. Das ist Nächstenliebe, wie sie im Buch steht!
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet! Jesaja findet ausdrucksstarke Bilder für den Trost. Gerade jetzt höre ich diesen Text besonders aufmerksam. Er kommt mir näher als sonst. Es gibt dieser Tage viele Gelegenheiten, den Trost in die Tat umzusetzen: nicht nur mütterlich, sondern auch väterlich; nicht nur weiblich, sondern auch männlich: denn er ist MENSCHLICH.
Dr. Gunter Volz
Pfarrer für gesellschaftliche Verantwortung
Evangelisches Stadtdekanat Frankfurt und Offenbach