„Ob Bahn oder Kirche: Wir baden heute die Fehler von früher aus“
Was haben Deutsche Bahn und Kirche gemeinsam? Beide müssen heute ausbaden, was vor Jahrzehnten versäumt wurde.
Bei der Bahn wurde so lange die Infrastruktur vernachlässigt, dass jetzt alles gleichzeitig kaputtgeht. Und genauso ist der rasante Mitgliederrückgang der Kirchen – allein voriges Jahr verlor die evangelische Kirche in Deutschland drei Prozent ihrer Mitglieder – keine unmittelbare Reaktion auf heutige Ereignisse. Sondern die Folge von Versäumnissen, die ein bis zwei Generationen zurückliegen.
Laut einer Frankfurter Studie von Anfang der 1990er Jahre wendeten Pfarrer:innen damals 90 Prozent ihrer Kommunikation für grade mal 5 bis 10 Prozent der Mitglieder auf, nämlich für diejenigen, die sich aktiv am Gemeindeleben beteiligten. Man sprach zwar von einer „einladenden Kirche“, deren Türen für alle offen stünden. Das hieß übersetzt aber nur: Wer nicht von selber kommt, soll eben wegbleiben.
Die meisten „kirchenfernen“ Kirchenmitglieder stimmten sogar zu. „Ich kann Christ sein ohne die Kirche“, sagten sie zum Beispiel. Nur: Das stimmt nicht. Im Christentum geht es nicht um eine individuelle spirituelle Erlösung, sondern um Gemeinschaft, um eine geteilte Praxis im Alltag. Die „Gemeinde“ ist der Kern, nicht irgendein erweckliches Gefühl von persönlicher Frömmigkeit.
Ohne Gemeinschaftserlebnis verblasst das Christsein mit der Zeit. Die Menschen, von denen sich die Kirche vor 20, 30, 40 Jahren mit ihrer Fokussierung auf die „Kerngemeinde“ entfernt hat, sind selbst zwar nicht ausgetreten. Aber sie haben die Religion auch nicht an ihre Kinder und Enkel weitergegeben. Die sind es, die der Kirche heute den Rücken kehren. Für sie fühlt es sich nämlich an, als seien sie irgendwie aus Versehen in diesen Verein hineingeraten.
Das lässt sich auch nicht mehr ändern. Wir könnten aber verstehen, dass es im Christentum keine „Karteileichen“ gibt. Sondern dass alle, die getauft sind und Kirchensteuern zahlen, „die Gemeinde“ bilden und ein Recht darauf haben, von der Organisation ernst genommen und angesprochen zu werden.
0 Kommentare
Zu diesem Artikel wurden noch keine Kommentare verfasst. Schreiben Sie doch den ersten.