Zwischen Friedhof und Kindergarten: eine neue Generation Pfarrerinnen startet durch
Das gelbe Lastenfahrrad ist immer dabei. Der Stadtteil Berkersheim liegt am Rand von Frankfurt, ganz oben im Nordosten, es ist der drittkleinste der Stadt. Und Antonia von Vieregge ist viel unterwegs. Zwischen Friedhof und Kindergarten, auf den Berkersheimer Feldwegen zur Vorbereitung auf den nächsten Outdoor-Gottesdienst, zwischen Lebensmittelgeschäft und Spielplatz.
Die neue Pfarrerin und ihr Fahrrad sind längst überall bekannt. Die 31-Jahrige ist seit Juli 2019 Pfarrerin der Michaelisgemeinde. Vieregge hat zwei kleine Kinder, zunächst übernahm sie in ihrer Elternzeit nur den Konfirmationsunterricht. Wer mit ihr spricht, landet schnell bei Themen wie Diversität und Vielfalt – und was das alles mit Berkersheim zu tun hat. Eine Menge, denn nirgendwo treffen Menschen so unterschiedlicher Altersklassen und mit den verschiedensten Biografien so direkt aufeinander wie in einer Kirchengemeinde.
Das Interesse an Menschen war einer der Gründe, warum sich die Abiturientin Antonia von Vieregge vor 13 Jahren entschied, Theologie zu studieren. Nach Abschluss ihres Vikariats in Idstein, der praktischen Ausbildungszeit als Pfarrerin, absolvierte von Vieregge ein Spezialvikariat am Frankfurter Flughafen, im Referat Diversity der Fraport. „Pfarrerin oder Archäologin“ habe sie als junges Grundschulkind werden wollen, und im Grunde ist sie jetzt beides.
Denn Schätze zu heben gibt es in einer Gemeinde viele. Zum Beispiel, wenn sie die Konfirmandinnen und Konfirmanden Krippen bauen lässt aus Alltagsgegenständen, die sie in ihren Zimmern finden. Oder wenn Menschen aus der Gemeinde für einen Zettelkasten ihre Gedanken aufschreiben. Die digitale Welt sei nicht ihre Leidenschaft, sagt sie. „Dennoch genieße ich manchmal die Ruhe eines Online-Gottesdienstes.“
Seitdem die evangelischen Landeskirchen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts – mitunter sehr zögerlich – begannen, Frauen zu ordinieren, wird der Pfarrdienst in großer Selbstverständlichkeit von beiden Geschlechtern wahrgenommen. Der Anteil der Pfarrerinnen liegt in den evangelischen Gemeinden in Deutschland inzwischen bei mehr als einem Drittel. 1907 promovierte erstmals eine Frau in evangelischer Theologie, doch erst 1991 führte die schaumburg-lippische Kirche als letzte Mitgliedskirche der EKD die Frauenordination ein. Vor 50 Jahren, im Dezember 1970, verabschiedete die Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau als erste in Deutschland ein Gesetz, das die völlige rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern im Pfarrdienst regelte.
Charlotte Eisenberg ist Pfarrerin der Regenbogengemeinde in Sossenheim. Ihr liegt das Digitale, was auch damit zu tun hat, dass sie vor Jahren als Freiwillige mit dem Friedensdienst Eirene in Uganda das Filmen gelernt hat. Sie kommt im Netz mit den Menschen ins Gespräch. In einer Youtube- Reihe interviewt sie Persönlichkeiten aus dem Stadtteil, befragt sie zu ihrem Glauben, lässt sich von ihnen an Orte führen, die ihnen wichtig sind.
Seit August 2019 wohnt Charlotte Eisenberg mit ihrem Mann und den drei Kindern im Pfarrhaus. Über deutsch-afrikanische Begegnungen hat Eisenberg ihre Doktorarbeit geschrieben, das führte sie nach Ghana. In Sossenheim ist, wie praktisch, auch eine ghanaische Gemeinde ansässig. „Das war ein schöner Zufall für mich. Wir wollen die Beziehungen zueinander jetzt ausbauen.“
Noch ist die 39-Jährige in der Kennenlernphase. Sossenheim fühle sich in manchen Ecken fast dörflich an, sagt sie, gleichzeitig sei es ein Stadtteil mit sozialen Problemen: „Ich will häufiger auch in den großen Hochhaussiedlungen vorbeischauen und mit den Menschen dort sprechen.“
Rund 20 Kilometer Luftlinie weiter im Osten, in Offenbach, bereitet sich gerade Saskia Awad auf eine Beerdigung vor. Es ist bereits ihre dritte. „Beerdigungen sind besondere Herausforderungen. Jedem Menschen muss man individuell gerecht werden, die Angehörigen persönlich begleiten, keine Beerdigung ist wie die andere.“ Mit Menschen arbeiten, das ist ihr Wunsch, und so war das schon immer, seit Saskia Awad als Jugendliche im Kindergottesdienst und bei Kinderbibeltagen mitwirkte. Mit ihrer Gemeinde war sie damals in Taizé und in Ägypten, eine spannende Zeit.
Ihr Dienstzimmer ist noch kaum eingerichtet, denn sie ist erst seit dem 1. Januar diesen Jahres die neue Pfarrerin der Lukas- und Matthäusgemeinde. Offenbach ist ein perfekter Wohnort für sie und ihren Mann, der noch in Darmstadt studiert. Der Arbeitsbeginn in der Pandemie sei natürlich ein bisschen surreal, viele Gemeindegruppen kann sie derzeit gar nicht kennenlernen. 29 Jahre ist Saskia Awad alt, sie dürfte eine der jüngsten Vertreterinnen ihres Berufs im Rhein-Main-Gebiet sein. „Ich blicke zuversichtlich ins neue Jahr, durch die Impfungen werden wir hoffentlich bald wieder mehr Normalität haben.“
Zurück in Frankfurt, auf der südlichen Mainseite. Den größten Sprung zwischen zwei Orten hat sicherlich Cäcilie Blume genommen. Im Spätsommer 2020 bezog die 40-Jährige die frisch renovierte Altbauvilla neben der Schwanheimer Martinuskirche, ein Pfarrhaus wie gemalt. Mit ihren vier Kindern und den vielen Büchern und Musikinstrumenten können die Blumes es locker ausfüllen. Eine Pfarrersfamilie, wie sie im Buche steht – und aus einer ebensolchen stammt Cäcilie Blume. Sie ist im Schwäbischen groß geworden, schon als Kind wurden ihr manchmal Sterbefälle am Telefon mitgeteilt, wenn sie zufällig ranging, denn der Dienstanschluss war gleichzeitig der private. Pfarrerin wollte sie eigentlich gar nicht werden, lieber Ärztin. Doch ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer Kirchengemeinde in Schweden machte ihr dann doch Lust auf den Job. Praktische Theologie wurde an der Uni ihr Lieblingsfach, in dem sie auch promovierte. Also keine Überraschungen?
Doch, und wie. Bevor sich die Familie in Schwanheim niederließ, lebte sie fünf Jahre in Jerusalem. Cäcilie Blume hat in der dortigen Erlöserkirchengemeinde ihr Spezialvikariat gemacht. Die Dunkelheit des Frankfurter Winters macht allen sechs Blumes noch ein bisschen zu schaffen. Und die Erinnerungen an Israel und Palästina – sie wohnten in Ost-Jerusalem – sind stets präsent.
Da die Stelle in Schwanheim ihre erste richtige ist, muss Pfarrerin Blume viel allzu Praktisches noch lernen. „Vor allem mit Verwaltung hatte ich bislang wenig zu tun“, sagt sie. „Ich sitze im Alltag sehr viel am Telefon, und plötzlich bin ich auch für Personalfragen zuständig – mittlerweile kenne ich mich sogar mit den Feinheiten der Beantragung eines Bildungsurlaubs aus.“ Gut, dass ihr Mann gerade Elternzeit hat. „Da muss ich nicht auch noch kochen zwischen Gemeindearbeit und Homeschooling.“
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