Müssen wir wirklich auch unsere Feinde lieben?
Im Lauf der Menschheitsgeschichte hat sich die Unterscheidung in Freunde und Feinde, in Heimische und Fremde als geradezu überlebensnotwendig eingebrannt. In der Kulturgeschichte war es ein Fortschritt, nicht mehr alle Fremden für Feinde zu halten. Als humane Gesellschaft erkennen wir heute an, dass alle Menschen mit unveräußerlichen Lebensrechten ausgestattet sind, unabhängig Herkunft, Nationalität oder Hautfarbe.
„Leben und leben lassen“ ist der Grundgedanke von Diplomatie und Handel. Das Christentum macht sich darüber hinaus aber noch dafür stark, Freund und Feind auch im persönlichen Miteinander auf eine Ebene zu bringen. Das Gebot der Nächstenliebe soll auch die einbeziehen, die völlig anders unterwegs sind als ich, deren Interessen und Lebensentwürfe meinen zuwiderlaufen: Auch der Feind ist mein Nächster, auch ihm bin ich Achtung und Respekt, ja letztlich Liebe schuldig.
Das bedeutet nicht, dass Konflikte nicht ausgetragen werden können und dem Bösen keine Grenzen gesetzt werden. Aber was auf keinen Fall geht, ist eine Entmenschlichung des Gegenübers. Und die beginnt laut Jesus schon im Kopf: in verächtlichen Gedanken, in herabsetzender Begrifflichkeit, in dummen Witzen. Wie für einen trockenen Alkoholiker schon der erste Tropfen verheerend wirkt, so beginnt für die gewaltaffine Spezies Mensch der Krieg bereits mit dem Gedanken, dass der andere irgendwie zu einer minderen Art gehöre.
Egal, ob es der Schläger von nebenan ist oder eine politische oder religiöse Gruppierung, egal, wie tief der Graben zwischen uns ist: Der andere Mensch ist ebenso Gottes geliebtes Geschöpf wie ich. Auch er oder sie hat eine unverlierbare Würde und ein Recht auf Unversehrtheit.
Deshalb: Ja, wir müssen unsere Feinde lieben. Wir müssen ihnen Liebe in Form von Fairness, Respekt und wohlwollendem Verständnis entgegenbringen. Nur dann können wir offen und selbstkritisch auch in die Konfrontation hineingehen, ohne dass wir uns von Aggression leiten und den Ton bestimmen lassen.
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