Wozu braucht der Gottesdienst eine Liturgie? Sie erleichtert die Begegnung mit Gott
Im Alltag haben wir viele kleine persönliche Begrüßungsrituale. Mit „Hallo!”, Handschlag, Umarmung und einer gewissen Anzahl von Küsschen meistern wir die Begegnungen mit anderen Menschen. Meistens wissen wir instinktiv, was gerade angemessen ist: Ob es eher locker oder eher förmlich zugehen soll. Oft hängt der Erfolg einer Begegnung von Signalen ab, die schon bei der Begrüßung ausgetauscht werden. Je sensibler und heikler die Begegnung, zum Beispiel bei einem Staatsbesuch, umso genauer werden die einzelnen Schritte und Gesten vorher vom Protokoll festgelegt. Genauso ist es bei der Begegnung mit Gott.
Gottesdienst – eine Begegnung zwischen Ungleichen
Während es bei Begegnungen zwischen Menschen darum geht, eine gewisse Augenhöhe zu garantieren, geht es im Gottesdienst um das genaue Gegenteil: Die Gemeinde will ja Gott begegnen, also einem absolut überlegenen Gegenüber. Gott ist allmächtig und vollkommen und hat alles, was ist, geschaffen. Wir dagegen sind Geschöpfe, ohnmächtig und alles andere als vollkommen. Eigentlich ist eine Begegnung zwischen zwei so ungleichen Seiten gar nicht möglich. Tatsächlich kann sie auch nur stattfinden, weil Gott es so will und zulässt. Jede Annäherung von unserer Seite will sorgfältig bedacht sein. Die Liturgie ist eine bestimmte Form, die dabei helfen soll. Sie kann unterschiedliche Ausprägungen haben, soll aber vor allem die achtsame Annäherung sicherstellen: Damit wir Menschen Gott begegnen können, müssen wir zugeben, dass wir unvollkommen und abhängig sind, und die absolute Souveränität und Andersartigkeit Gottes anerkennen.
Liturg oder Liturgin (in der Regel, aber nicht immer die Pfarrerin oder der Pfarrer) nehmen dabei eine Mittlerposition ein. Sie sprechen im Gottesdienst für die Gemeinde, aber auch – nach bestem Wissen und Gewissen – für Gott. Ihre Erfahrung schöpfen sie aus der Bibel, die nach christlicher Überzeugung Auskunft über Gottes Wesen und Willen gibt.
Die Gemeinde ist dabei nicht einfach nur neutrales Publikum, sondern nimmt aktiv teil. Das bekundet sie hörbar durch Gesang, Glaubensbekenntnis, Gebet und liturgische Gesänge. Aktiv ist die Gemeinde selbstverständlich auch darin, dass sie sich Gottes Wort und Willen nahegehen lässt und sich aneignet.
Die Liturgie des sonntäglichen Gottesdienstes
Das „Musterprotokoll” für den sonntäglichen Hauptgottesdienst beginnt mit dem einladenden Geläut und dem geistigen Ankommen während des musikalischen Vorspiels. Liturg oder Liturgin bekräftigen, dass sie nun „im Namen Gottes” handeln. Sie vertreten also im Gottesdienst ausschließlich Gott, nicht wie ein Richter das „Volk” oder ein Manager seine Firma, schon gar nicht einen Führer oder eine Ideologie. Sie vertreten auch nicht „die Kirche“.
Danach folgt ein komplexes Begrüßungsritual: Im Eingangslied besingt die Gemeinde ihren Schöpfer und Erhalter. Im Psalmgebet leuchtet Gottes Größe und Erhabenheit auf. Dann kommt das „kleine Gloria”, das üblicherweise die Psalmen der hebräischen Bibel in den christlichen Kontext stellt: „Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist”. Die Gemeinde realisiert dabei, dass der dreieinige Gott ihr Lebensgrund ist. Sie selbst dagegen ist unvollkommen, was im Sündenbekenntnis zur Sprache kommt, das die Gemeinde bekräftigt, indem sie „Herr, erbarme dich” singt. Liturg oder Liturgin haben allerdings im Gnadenwort eine frohe Botschaft: Gott vergibt die Schuld und befreit zu einem Leben ohne Angst. Davon ist die Gemeinde sehr angetan und lobt Gott im „großen Gloria”: „Ehre sei Gott in der Höhe”. Damit ist das Verhältnis zwischen Gott und Gemeinde klar, und die Gemeinde ist sozusagen „eingenordet”.
Im anschließenden liturgischen Gruß zwischen Liturg oder Liturgin und Gemeinde („Gott sei mit euch – und mit deinem Geist”) wünschen beide einander Gottes Nähe: Die Gemeinde braucht sie, um Gottes Wort angemessen aufzunehmen, Liturg oder Liturgin brauchen sie, um Gottes Wort unverfälscht weiterzugeben. Das „Kollektengebet” bringt dann einen Kerngedanken in der Begegnung mit Gott zur Sprache („Du bist ..., wir sind ... und bitten dich”), und die Gemeinde bekräftigt das mit ihrem „Amen”.
Nun kommt der Verkündigungsteil des Gottesdienstes, in dem es darum geht, die Inhalte des christlichen Glaubens besser zu verstehen. Im Mittelpunkt stehen
korrespondierende Texte: Eine Bibellesung, nach der die Gemeinde das Gotteslob anstimmt („Halleluja”) und ihren Glauben bezeugt, danach ein Lied, das das Thema des Sonntags vertieft, schließlich der Predigttext mit einer Auslegung, die den Bibeltext und die Lebenswelt miteinander ins Gespräch bringt, und dann ein weiteres Lied, das oft einen Predigtgedanken aufnimmt oder die Predigt in einen größeren gedanklichen Zusammenhang stellt.
Es folgen die Fürbitten und das Vaterunser. Bei den Fürbitten denkt die Gemeinde an die Nahen und Fernen, die Unterstützung, Kraft und Trost nötig haben. Indem sie Gott um Beistand bittet, macht sie sich auch klar, dass wir alle selbst in der Verantwortung stehen, das zu tun, was nötig und möglich ist. Im Vaterunser bündeln sich alle Gebetswünsche. Die Worte dieses Gebets gehen auf Jesus selbst zurück, weshalb die Gemeinde dabei in einer sehr innigen Weise sowohl mit Jesus als auch mit allen anderen, die diese Worte jemals gesprochen haben und sprechen, verbunden ist – über alle konfessionellen und sonstigen Grenzen hinweg. Das Vaterunser fehlt in keinem Gottesdienst, denn es steht für den weltweiten Horizont der ungeteilten Kirche Jesu Christi.
Ein Schlusslied gibt dann einen Impuls für die Woche, und danach folgt der Segen. Für viele ist der Segen der wichtigste Teil im Gottesdienst, denn sie können daraus Kraft für die Herausforderungen des Alltags schöpfen. Manche Liturgen oder Liturginnen sprechen den Segen als Zuspruch („Gott segne dich”), andere lieber als Bitte („Gott segne uns”). Die Botschaft des Sonntags und das gute Gefühl der Geborgenheit in Gott klingen wider im musikalischen Nachspiel. Am Ausgang wird dann eine Kollekte erwartet, ein Akt aktiver Solidarität.
Eine einheitliche Liturgie erleichtert den Zugang
Dieser ritualisierte Ablauf besonders im Eingangsteil kann trotz seiner inneren Dramatik langweilig wirken. Der Vorteil ist aber, dass alle, die den Ablauf kennen, sich überall aktiv an einem Gottesdienst beteiligen können. In der katholischen Kirche ist das noch konsequenter verwirklicht: Egal, in welchem Land ich mich befinde, die Messe läuft überall gleich ab. Sogar wenn ich die Sprache des jeweiligen Landes nicht verstehe, weiß ich sofort, wo ich gerade bin und was von mir erwartet wird. Im Protestantismus ist das weniger einheitlich geregelt, weil es verschiedene Kirchen und Gemeinden gibt. Ungewohnte Gottesdienstbesucher und -besucherinnen setzen sich daher gerne nach hinten. So können sie besser sehen, was die anderen machen, und wie man sich „richtig” verhält. Als „Hinterbänkler” hat man im Zweifelsfall auch leichter die Chance, sich herauszuziehen, wenn es im Gottesdienst plötzlich zu nah wird, indem man zum Beispiel wildfremde Menschen an die Hand nehmen soll. Was eigentlich der Integration dienen soll, führt dann leider zum Befremden.
Vieles spricht also für übergreifend einheitliche Formen. In der hessen-nassauischen und der kurhessischen Kirche gibt es im Wesentlichen zwei Grundformen, eine kürzere und eine ausführlichere, die dem Bedürfnis nach Einheitlichkeit Rechnung tragen.
Abwechslung erfreut, aber nicht zu oft
Neben der Grundform des Gottesdienstes sind eine ganze Reihe kleinerer Formen im Gebrauch, zum Beispiel für Passionsandachten, Abendandachten oder eine Andacht mit Liedern aus der Gemeinschaft von Taizé. Das alles hindert jedoch nicht, daneben auch weitere Formen zu praktizieren, so lange darin das christliche Menschenbild ebenso wie das Gottesbild reflektiert werden. Die gesungenen Übereinstimmungen und Bekräftigungen, die sogenannten „Responsorien“, können zum Beispiel durch Texte oder Liedstrophen ersetzt werden, die dasselbe ausdrücken, selbstverständlich auch aus dem neueren Liedgut. Das Protokoll der Begegnung kann je nach Bedarf und Anlass stark verkürzt oder auch wesentlich erweitert werden. Dabei liegt es natürlich nahe, einmal gefundene und bewährte Formen dann auch mit einer gewissen Kontinuität zu praktizieren, damit sich die Gemeinde gut einfinden kann. Gedruckte Gottesdienstblätter erleichtern nicht nur Dazugekommenen den Überblick. Im Zweifelsfall kann man die Grundform des Gottesdienstes im Eingangsteil des Gesangbuches nachlesen. Dann kann man sich auch leichteren Herzens weiter nach vorne setzen, weil man keine Angst haben muss, etwas „falsch” zu machen.
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