Hundert Jahre Römerbriefkommentar: Ein Gedenkjahr für Karl Barth
Ein Karl Barth-Jahr – muss das sein? Hatten wir nicht genug Gedenkjahre in der vergangenen „Dekade der Reformation?“ Wollen die Reformierten jetzt mit dem Karl Barth-Jahr das „Lutherjahr“ toppen? So habe ich – und nicht nur ich – gefragt, als der Reformierte Bund seine Pläne für dieses Jubiläumsjahr zum ersten Mal äußerte. Und dann auch noch ohne ersichtlichen Grund. Barths 50. Todestag im Dezember 2018 ist bereits vorbei, das Erscheinen eines Kommentars ein etwas gewollter Anlass. Meine Skepsis war groß.
Und sie schien zunächst berechtigt. In den Gemeinden und in „Pfarrerskreisen“ auch im reformierten Bereich gab es kaum Interesse an der Person Karl Barths und einem historischen Rückblick. Doch seit einigen Monaten entwickelt dieses Gedenkjahr eine eigene und sehr spannende Dynamik. Es begann mit einer kontroversen Debatte über das Verständnis der Theologie Karl Barths in der EKD, die plötzlich die hohe Relevanz nicht nur der Person, sondern vor allem der Theologie Karl Barths auch für heutige Fragen der Kirche ins Blickfeld rückte.
Dass das Gedenkjahr einer der bedeutendsten Veröffentlichungen Barths und nicht einem biographischen Datum gilt, erscheint in dieser Perspektive als ungeahnter Glücksfall. Denn es zeigt sich, dass dieser theologische Blick keinen Personenkult um Karl Barth machen und – anders als die Gedenkjahre der Reformationsdekade – auch nicht in medienwirksame Werbeveranstaltungen für evangelische Theologie und Kirche münden wird, sondern die Interessierten zum Nachdenken über das Selbstverständnis und die Botschaft des evangelischen Glaubens und Lebens herausfordert. Dass diese Diskussion an einem dezidiert reformierten Entwurf geführt wird, ist wiederum ein Glücksfall für uns als Reformierte.
Zwei große – klassisch reformierte – Themen ruft uns Karl Barth ins Bewusstsein: Die Frage nach Gott und die politische Existenz des Christseins. Beide sind und waren im Leben und Denken Barths nicht voneinander zu trennen. Die Erfahrung des ersten Weltkriegs und die Kriegsbegeisterung der liberalen Theologie seiner Zeit führten bei ihm zu einem radikalen Bruch mit dem damaligen theologischen Mainstream und seinen Versuchen, den Glauben an Gott im religiösen Empfinden des Einzelnen oder der Zeitgeschichte zu verankern. Die unermessliche Grausamkeit des Krieges und das Versagen der gesellschaftlichen Instanzen führten diesen Ansatz ebenso ad absurdum wie die totale Überschätzung der kirchlichen Institutionen, die auf das Zusammenbrechen des kaiserlichen Kirchenregiments am Ende des Krieges folgte.
Dass es im Glauben allein um Gott geht, der uns eben nicht in unserem religiösen Empfinden oder den kirchlichen Institutionen begegnet, sondern allein in seinem Wort und dort als „der ganz andere“, dafür trat Barth auch in seinem 1919 erschienenen Römerbriefkommentar leidenschaftlich ein.
Die Begegnung mit Gott in seinem Wort bedeutete aber eben auch: in seinen Geboten. Das hieß für Barth, auf den verschiedenen Stationen seines Lebens und Wirkens nach dem Willen Gottes zu fragen, oft auch im Gegensatz zu seinem jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umfeld. Die Not der Arbeiter in Barths erster Gemeinde in Safenwil motivierte ihn zum gesellschaftliche Engagement in der Nähe der religiösen Sozialisten, in der NS-Zeit wurde er zur wichtigsten Stimme der Bekennenden Kirche, in der jungen deutschen Demokratie engagierte er sich gegen die Wiedereinrichtung der Bundeswehr und die atomare Aufrüstung.
In Barths radikalen Bezug auf das Evangelium spielten Fragen wie die nach der Entwicklung der kirchlichen Institutionen oder der Mitgliederorientierung keine Rolle. Angesichts der zunehmenden Bedeutung dieser Fragen für die Entwicklung der evangelischen Kirche in den Jahrzehnten nach der politischen Wende von 1989 geriet die Theologie Karl Barths daher zunehmend in Vergessenheit – zu unbequem, zu radikal, zu exklusiv erschien sie vielen, die ihr Hauptaugenmerk auf die Mitgliederpflege richteten.
Mittlerweile wird allerdings auch in der evangelischen Kirche die Frage lauter, ob die Kirche nicht jenseits der Bemühungen um den Erhalt der Ressourcen und Strukturen in erster Linie ihrem Verkündigungsauftrag gerecht werden müsse – und worin der in der heutigen Zeit bestehe. Das sind ähnliche Fragen, wie sie auch Karl Barth zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gestellt hat – auch wenn die gesellschaftliche und politische Situation damals eine andere war.
Dazu kommt, dass die Ausrichtung auf Gottes Wort und seinen Willen auch heute wieder ein Korrektiv zu zwei problematischen Entwicklungen in der protestantischen Frömmigkeit bilden könnte: Auf der einen Seite wächst auch unter Kirchenmitgliedern die Tendenz, die Gottesfrage von jeglichen theologischen Festlegungen zu lösen und unbestimmt von einer „höheren Macht“ zu sprechen, die an möglichst viele religiöse Vorstellungen anschlussfähig ist. Demgegenüber wird eine neue Diskussion darüber geführt werden müssen, wen oder was wir als Kirche denn meinen, wenn wir von Gott reden.
Auf der anderen Seite wird in vielen sozial homogenen Gruppen eine Frömmigkeit gepflegt, die ein Gemeinschaftsgefühl aus Bekenntnisformeln und Lobpreisliedern geriert, ohne nach der Relevanz dieser Botschaft für das Leben in und mit Gottes Schöpfung und seinen Geschöpfen zu fragen. Hierzu ist Barths in Gottes Gebot begründeter Einsatz für ein menschenwürdiges Zusammenleben ein kritisches Korrektiv.
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