Engel: Mehr als bloß Kitsch
Jetzt hängen sie wieder am Weihnachtsbaum, stehen auf Tischen, tummeln sich in Adventskalendern: Weihnachtsengel. Aber was sind Engel im ursprünglich biblischen Sinne? Welche Kraft geht von ihnen aus? Und warum sind sie für den Glauben wichtig?
Es gibt in der christlich-jüdischen Tradition verschiedene Arten von Engeln: Da wäre zunächst mal der Engel des Jahwe-Gottes, der schon in den ältesten Texten der hebräischen Bibel auftaucht, und bei dem sich manchmal gar nicht unterscheiden lasst, ob von Gott oder vom Engel die Rede ist. Dann gibt es die Himmelswesen, die den Hofstaat Gottes bilden, wie die Seraphim, „die Brennenden“, oder die Cherubim, was „Fülle des Göttlichen“ bedeutet. Ihre Aufgabe ist es, Gott zu loben und den Menschen Gottes Herrlichkeit zu erschließen, aber sie setzen auch Grenzen: so bewachen sie das Paradies, aus dem die Menschen verstoßen wurden.
Wenn heute von Engeln die Rede ist, sind meistens Wesen gemeint, die göttliche Botschaften überbringen. Tatsachlich geht das deutsche Wort Engel auf das griechische „aggelos“, „Bote“, zurück. Vielleicht lässt sich die Bedeutung von Engeln so auf den Punkt bringen: Durch sie wirkt Gott in der Welt und tritt mit uns Menschen in Beziehung.
In der Bibel gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Boten-Engel kündigen die Geburt besonderer Kinder an, wie die von Isaak, einem der wichtigsten Erzväter der Israeliten, und natürlich vor allem die von Jesus, die der Engel Gabriel Maria verkündet. Engel können aber auch aus Gefahr retten, Menschen begleiten oder ihnen Mut machen. Im Buch der Könige flößt ein Engel dem tödlich erschöpften Propheten Elia neue Kraft ein. Und in den Evangelien ist es ein Engel, der den Jüngerinnen am leeren Grab die Auferstehung Jesu verkündet.
Boten-Engel handeln im Auftrag Gottes. Nur drei von ihnen haben in der Bibel einen Namen, von denen jeder eine inhaltliche Bedeutung hat: Raffael („Gott heilt“), Michael („Wer ist wie Gott?“) und Gabriel („Kraft Gottes“). Der Glaube an Engel kommt also nicht zum Glauben an Gott hinzu oder tritt gar an dessen Stelle, sondern ist ein Aspekt des Gottesglaubens.
Das ist nicht nur theoretisch oder historisch gemeint. Auch heute kann ein Mensch, der einem anderen eine wichtige Einsicht vermittelt, zum Engel werden. Wer anderen etwas von Gottes Nähe und Zuwendung spürbar werden lasst, ist ein „Engel“. Sogar die Natur kann diese Funktion einnehmen, etwa ein Blätterhaufen, der ein Kind auffängt, das vom Klettergerüst fällt.
„Engel“ sind also alle und alles, worin Gott erfahrbar und sichtbar wird. Sie sind das, was sich auf der Grenze zwischen Himmel und Erde bewegt, also zwischen der profanen diesseitigen Welt und dem göttlichen Wirken. Engel ermöglichen es, dass Menschen sich von Gott getragen fühlen. Das Wirken der Engel kann als große Freude oder Überraschung erlebt werden, und es ist immer ein Ereignis, das das Gewohnte des Alltags sprengt und die Augen für eine andere Sicht der Wirklichkeit öffnet.
Wie Engel aussehen, davon ist in der Bibel keine Rede. Vor allem die Flügel sind eine relativ späte Erfindung. Die frühen Christ:innen stellten sich Engel noch ohne vor, wie Zeichnungen aus der damaligen Zeit belegen. Vermutlich sind Vorstellungen von geflügelten Götterboten aus der griechischen Mythologie in die christlichen Engelsvorstellungen eingeflossen. Auch für die Verbindung von Erde (unten) und Himmel (oben) boten sich Flügel zur Veranschaulichung an.
Aber das Wichtige an Engeln ist nicht ihr Aussehen, sondern ihr Wirken, ihre Kraft, ihre Energie, ihr Bote-Sein. Wissenschaftlich beweisen lässt sich ihre Existenz genauso wenig wie die Existenz Gottes. Aber die Existenz von Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit lässt sich ja auch nicht beweisen – und trotzdem sind sie real und bedeutsam.
Der französisch-russische Maler Marc Chagall, auf dessen Bildern oft ein Engel schwebt (und dem die Schirn zurzeit eine Sonderausstellung widmet) hat gesagt: „Unsere ganze innere Welt ist Wirklichkeit, vielleicht greifbarer als die wirkliche Welt.“ Und so ist es mit den Engeln eben auch.
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